Unser Gesundheitswesen hat die Welt der "Schwarzwaldklinik" weit hinter sich gelassen. Kein Prof. Brinkmann mehr, der alles weiß und alles kann. Mehr noch: Die Gesundheitsbranche ist im Hinblick auf Arbeitsorganisation zum Vorreiter geworden. Für viele andere Wirtschaftszweige ist es die Blaupause dafür, wie die Zukunft der Zusammenarbeit aussieht.
Das Wissen wächst exponentiell. Immer mehr Branchen organisieren sich heute wissensbasiert. Kaum irgendwo sonst ist das Wissen in den vergangenen Jahrzehnten rasanter gewachsen als in der Medizin. Das Ausmaß der Spezialisierung hat bereits Dimensionen angenommen, die anderen Branchen erst noch bevorstehen.
Spezialisten-Kollektive schlagen allwissende Einzelgänger
An die Stelle der einsamen Beschlüsse eines Prof. Brinkmann zur Behandlung eines Patienten treten heute immer öfter Entscheidungen von Gremien aus hoch spezialisierten Experten. Sehr verbreitet sind solche Kollektive aus Spezialisten bereits in der Onkologie. Bei Krebs müssen insbesondere schwere Verläufe immer wieder neu eingeschätzt werden, um die bestmöglichen therapeutischen Maßnahmen zu finden.
Die Mitglieder des Tumor-Boards betrachten einen Fall nun aus den unterschiedlichsten fachlichen Perspektiven. Sie tauschen ihre Sichtweisen auf Augenhöhe aus. Statt Einzelentscheidern ist das Board die Autorität. Damit das funktioniert, stellen alle zunächst sicher, dass sie in ihrem jeweiligen Spezialgebiet über das aktuellste Wissen verfügen sowie die neuesten Behandlungsmethoden kennen und praktizieren.
Spezialisierung galt früher als Schwäche, heute als Stärke
In seinem mittlerweile siebten Buch "Mesh – die Evolution der Zusammenarbeit" beschäftigt sich der Strategieberater Christoph Zulehner damit, dass Spezialisierung kein kurzfristiger Trend ist, sondern ein Mindset. Damit kann nämlich nicht nur altes Denken und der grassierende Egoismus überwunden werden. Wenn Wissen geteilt und mit anderen Neues geschaffen wird, werden auch der in der Arbeitswelt vorherrschende Stress und Druck zurückgehen. Zulehner selbst hat sein ganzes Berufsleben im Gesundheitswesen zugebracht.
Christoph Zulehner © Goran Andric
"Das Organigramm in einer typischen Klinik der 80er Jahre war eine hierarchisch durchstrukturierte Pyramide. An den Arbeitsplätzen agierten Allrounder. Sie kümmerten sich von der Diagnostik über die Therapieentscheidung und die OP bis hin zur Nachsorge um alles, und zwar höchstpersönlich", erklärt Zulehner. Normalerweise war es in Prof. Brinkmanns Welt auch nicht nötig, andere um Rat zu fragen. Teams aus Spezialist:innen, wie wir sie heute in der Medizin kennen, wären schon allein daran gescheitert, dass Spezialisierung als Schwäche galt und sich daher niemand so recht spezialisieren wollte. Etwas nicht zu wissen oder sich gar einmal zu irren, kam für Allrounder der alten Schule á la Prof. Brinkmann einer persönlichen Katastrophe gleich.
Organisationen der Zukunft
Auch in anderen Branchen ist der Wandel längst angekommen, denn im Gegensatz zu früheren Organisationen werden klassische Unternehmen mit ihren Organigrammen zunehmend verschwinden. Stattdessen werden sich Organisationen anders definieren. Menschen bilden je nach Aufgaben und Zielen Netzwerke, die nach getaner Arbeit auch wieder zerfallen. Individuen auf ihren hochspezialisierten Wissensschollen brauchen einander, um kreativ und produktiv zu sein.
"Denn es gibt noch andere Expert:innen-Schollen, die nur darauf warten, zur gemeinsamen Fahrt eingeladen zu werden. Der Ozean des Wissens ist nämlich gleichzeitig ein Ozean der Expert:innen. Und wie es aussieht, stellen sich die auf uns zukommenden Herausforderungen so dar, dass sie ohnehin nicht von Einzelnen zu bewältigen sein werden", sagt Zulehner. Die Voraussetzungen dafür sind Spezialisierung, Sichtbarkeit und Vernetzung.
www.christophzulehner.com
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