Womöglich kennen Sie den Vorgang noch aus Ihrer Zeit in der Sekundarstufe I: Wenn mehrere Personen mit Führungs- und Popularitätsanspruch auf einem Schulhof koexistieren müssen, ist das Nicht-Einladen zur eigenen Party ein bewährtes Mittel, um unliebsame Konkurrenz auf passiv-aggressive Weise vom relevanten Geschehen abzugrenzen.
Trotzdem darf der Ausführende die Rechnung nie voreilig ohne den Ausgeschlossenen machen – schließlich könnte dieser schlimmstenfalls sturmfrei haben und in den eigenen vier Wänden kurzerhand zur Gegenparty für alle andernorts Uneingeladenen bitten. Unabhängig davon, wie amüsant beide Events letztlich ausfallen: Dem Verhältnis der beiden Veranstalter wäre es womöglich zuträglicher gewesen, wenn sie gemeinsam gefeiert hätten.
Die Nicht-Einladung
"Die Beziehungen und die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu vertiefen" war das erklärte Ziel von Bundeskanzler Olaf Scholz – auf der kürzlich absolvierten Indien-Reise nach Neu Delhi. Zurück in der Heimat scheinen die Prioritäten zumindest mit Blick auf die eigene Ampelkoalition anders verortet: Anfang der Woche wurde weitläufig bekannt, dass der Kanzler am Dienstagnachmittag zu einem Wirtschaftsgipfel mit Vertretern von Industrie und Gewerkschaften ins Kanzleramt laden würde. Nicht auf der Gästeliste: Der Wirtschafts- und der Finanzminister.
Olaf Scholz bei seiner Indien-Reise am vergangenen Freitag (Bild: Bundesregierung)
Während Robert Habeck eine Nachfrage zur Nicht-Einladung der Bild zufolge mit einem "Ich brauche jetzt keine Gipfel, ich bin permanent am Bergsteigen" abgetan hat, äußerte sich Christian Lindner gegenüber RTL Direkt bedauernder: Er hätte gerne an dem Treffen mit Entscheidern vornehmlich aus der Auto-, Chemie- und Stahlindustrie teilgenommen, "aber der Bundeskanzler hat so entschieden". Im ZDF brachte Lindner bereits in der letzten Woche Unzufriedenheit über Alleingänge seiner wichtigsten Koalitionskollegen zum Ausdruck.
Die Gegenveranstaltung
Und so rief Lindner gemeinsam mit FDP-Fraktionschef Christian Dürr einen eigenen Wirtschaftsgipfel auf der Plenarsaal-Ebene des Bundestages zusammen; wenige Stunden vor dem des Bundeskanzlers und für von Scholz nicht berücksichtigte Akteure: Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der Bundesverband der Freien Berufe (BFB), die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) und der Verband Die Familienunternehmer waren am Vormittag vertreten, wie die Nachrichtenagentur dts dokumentiert.
"Beim FDP-Gipfel kam nichts raus", befindet die Bild im Anschluss an den nur anderthalbstündigen Termin unverblümt, nach dem Lindner und Dürr vor die Presse traten. "Wir haben heute nicht an einem gemeinsamen Papier beraten, sondern wir haben Vorschläge aufgenommen und bewertet", nahm der Finanzminister dabei schnell die Hoffnung auf irgendwelche konkreten Beschlüsse.
Christian Lindner ging weiterhin auf grundlegende Probleme der deutschen Wirtschaft ein, die er unter anderem in einem bürokratiebedingt geringen Produktivitätswachstum oder einem teuren "Sonderweg" in puncto Klima- und Energiepolitik sieht.
Nichtsdestotrotz kam er zum Schluss: "Klar ist, dass wir in den nächsten Wochen alleine schon aufgrund der Zeitplanung für den Bundeshaushalt 2025 zu einer gemeinsamen Position werden finden müssen", weshalb er sich über "die Ergebnisse" des Gipfels auch mit dem Kanzler und dem Wirtschaftsminister unterhalten werde.
Der vertrauliche Kanzlergipfel
Für 16 Uhr war am Dienstagnachmittag schließlich das von Olaf Scholz einberufene Gipfeltreffen im Bankettsaal des Kanzleramts angesetzt. In den Minuten vorher wurden unter anderem BDI-Präsident Siegfried Russwurm, VCI-Präsident Markus Steilemann, die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Yasmin Fahimi, ihr Ehemann und Gewerkschaftschef Michael Vassiliadis und auch VW-Chef Oliver Blume bei der Anreise beobachtet. Blumes Unternehmen steht dieser Tage unter besonders besorgter Beobachtung.
Drei Stunden hat sich der Kanzler offenbar für den Termin genommen, womit er das Meeting der FDP-Führung zumindest zeitlich überboten hat. Am Dienstagabend teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit vergleichsweise knapp mit, dass sich Scholz "mit ausgewählten Teilnehmern zu einem vertraulichen Austausch über die Industriepolitik in Deutschland getroffen" hat. Alle Gäste haben demnach zugesagt, Inhalte öffentlich zunächst nicht näher zu diskutieren.
Maßnahmen wurden auch hier nicht vermeldet; vielmehr sei das Gespräch der Auftakt einer Reihe von Treffen zur Erörterung möglicher Wachstumsimpulse. Der nächste Termin ist für Freitag, 15. November angesetzt, ohne dass die Mitteilung näher auf eine personelle Veränderung oder Erweiterung der Runde eingeht.
"Deutschland ist ein starkes Land, das aktuell vor großen Herausforderungen steht. Jetzt geht es darum, gemeinsam anzupacken und mit einem Pakt für die Industrie, der sehr konkrete Maßnahmen umfasst, den Standort zu stärken", wird Kanzler Scholz zitiert.
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