Der Arzt und Wissenschaftsjournalist im Interview
Hartmut Wewetzer: "Lebe diesen Tag, genieße diesen Tag. Was morgen ist, weißt du nicht"

| Bernhard Führer 
| 05.08.2024

Der 53-jährige Arzt und Journalist Hartmut Wewetzer erhielt die Diagnose Magenkrebs. Bestimmte Diagnosen können erschütternd sein, Ohnmacht hervorrufen und existenzielle Ängste auslösen. Betroffene fragen sich oft: "Was passiert mit mir?" und fühlen sich dabei häufig alleingelassen. Eine gesamte Existenz - Familie, Beruf, Zukunft - steht plötzlich auf dem Spiel. In dieser Krise begibt er sich auf eine besondere Erkundung der "Krebswelt".

Wewetzer nähert sich dem Thema aus drei Perspektiven: als langjähriger Berichterstatter über Krebsmedizin, als Arzt mit praktischer Erfahrung und nun als Patient. Er forscht intensiv zu Ursachen, Therapieoptionen und Wegen der psychischen Bewältigung. Er beleuchtet in seinem neuen Buch Schicksale anderer Patienten, erzählt von bahnbrechenden medizinischen Fortschritten und schildert seinen persönlichen Krankheitsverlauf mit all seinen Höhen und Tiefen. Wewetzers Schlüssel zum Umgang mit der Krankheit ist Wissen. Er ist überzeugt: Wer die Erkrankung versteht, hat den ersten wichtigen Schritt zur Befreiung aus ihrer Macht getan. In seinem Buch "Überlebt" bietet er seinen Lesern vielfältige praktische Ratschläge, etwa zur Wahl der optimalen Behandlung und des passenden Arztes. Inzwischen ist er vollständig genesen. Er möchte nun anderen Patienten die Furcht vor der Chemotherapie lindern und hat Ratschläge für deren Angehörige parat. Sein neues Buch über seinen Umgang mit Krebs wird am 19. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert.

LEADERSNET: Erzählen Sie Ihren Hintergrund. Wie sind Sie aufgewachsen? Wie haben Ihre Kindheit und Ihr Aufwachsen Ihren Weg als Arzt und Publizistin beeinflusst?

Wewetzer: Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, in dem es viele Bücher gab, sehr viele Interessen, von Kunst bis zur Wissenschaft. Ich habe dann sehr schnell gedacht, ich möchte schreiben, bin dann aber zunächst auf die Medizin gekommen. Einfach aus dem Grund, weil das ein sehr vielseitiger Beruf ist und weil man sehr viel über den Menschen erfährt. Ich bin dann in den Journalismus gegangen und konnte beides miteinander verknüpfen, indem ich mich mit Wissenschaft und Medizin beschäftigt habe. Dabei habe ich versucht, Patienten und Menschen etwas zu geben, indem ich sie über Krankheiten und Hintergründe informiere und so in gewisser Weise noch eine ärztliche Mission hatte.

LEADERSNET: Herr Wewetzer, können Sie uns etwas über den Moment erzählen, als Sie die Diagnose Magenkrebs erhielten? Welche Gefühle und Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf?

Wewetzer: Ich war vorgewarnt worden von einer Ärztin auf der Station, die meinte, wir rechnen nicht damit, dass es gutartig ist. Dann bekam ich die Diagnose von dem Oberarzt, der mir das ziemlich direkt mitteilte. Man ist dann geschockt, wie auf den Kopf geschlagen und hat das Gefühl, man hat eine Art Urteil bekommen. Es ist wie ein Hammer, der auf einen runter saust. Der Arzt hätte es vielleicht etwas behutsamer verpacken können, aber an der Härte der Diagnose kann das auch nicht sehr viel ändern – es ist immer ein Schock.

LEADERSNET: Wie haben Sie die erste Zeit nach der Diagnose erlebt, und was hat Ihnen geholfen, die anfängliche Schockstarre zu überwinden?

Wewetzer: Am meisten geholfen hat mir der Rückhalt in der Familie, vor allem von meiner Frau. Zu wissen, dass da Menschen sind, die zu einem stehen, ist eine wichtige, entscheidende Sache. Wenn man das nicht hat, ist es schwieriger. Andere hilfreiche Dinge waren für mich, in der Natur zu sein – ich wohne am Stadtrand von Berlin und bin gern im Wald unterwegs. Das ist für mich ein Rückzugsort, an dem ich Kraft schöpfe. Ich bin auch Fan von klassischer Musik, besonders von Anton Bruckner, was für mich ein innerer Anker ist. Von großer Bedeutung ist der Überlebensinstinkt, der im Menschen unwillkürlich anspringt, wenn man mit einer existenziellen Bedrohung konfrontiert ist. Man bekommt Impulse, wie man sich verhalten sollte. Das ist ein wichtiger Teil unserer Persönlichkeit.

LEADERSNET: Haben Sie etwas umgestellt, etwa ernährungsmäßig oder in Bezug auf Sport?

Wewetzer: Es gibt unzählige Empfehlungen, man wird regelrecht damit überhäuft. Vieles ist sicher sinnvoll, wie sich gesund zu ernähren und sich viel zu bewegen. Manche empfehlen auch Meditation. Ich selbst bin inzwischen sportlicher als früher und jogge zwei Stunden in der Woche. Dennoch, es ist wichtig zu akzeptieren, dass nicht alles in der eigenen Hand liegt. Man darf keine Wunder erwarten und muss ganz einfach hinnehmen, dass hier Dinge ablaufen, die man nur begrenzt steuern oder beeinflussen kann. Das ist natürlich kränkend, weil wir immer alles kontrollieren wollen. Aber unser Schicksal ist eben unser Schicksal, im Guten wie im Schlechten. Indem wir es hinnehmen, wachsen wir über uns selbst hinaus und werden stärker.

LEADERSNET: Sie haben bereits erläutert, dass Sie anderen Patienten die Angst vor Chemotherapien nehmen möchten. Wie haben Sie selbst diese Chemotherapie erlebt und welche Tipps haben Sie für andere Patienten, die diese Behandlung durchmachen müssen?

Wewetzer: Chemotherapie ist natürlich der Horror für viele Patienten und oft mehr gefürchtet als die Krankheit selbst. Wichtig ist zunächst, dass man sich an eine Klinik oder einen Therapeuten wendet, die entsprechende Expertise haben. Das ist die Voraussetzung. Ich selbst habe die Chemotherapie erstaunlich gut vertragen. Es gab zwischendurch eine Störung im Immunsystem, darauf wurde die Therapie kurzzeitig unterbrochen. Das war aber nicht so dramatisch und passiert häufig. Unterm Strich habe ich es trotzdem gut verkraftet. Es gibt inzwischen ausgezeichnete Medikamente, mit denen die Nebenwirkungen abgefangen werden können, insbesondere die Übelkeit. Ich habe mehrere Medikamente allein gegen Übelkeit bekommen. Das ist ein wenig bekannter großer Fortschritt, dass Patienten sich heute nicht mehr ständig übergeben müssen. Man muss sich auch stets klar machen, dass die Chemotherapie das kleinere Übel ist. Es ist keine angenehme Sache, aber es ist schlimmer, nichts zu tun.

LEADERSNET: Als Wissenschaftsjournalist haben Sie viel Hintergrundwissen. Glauben Sie, dass Krebstherapien zukünftig weniger brutal werden als die Chemotherapie? Geht es dann in Richtung Immuntherapie?

Wewetzer: Es war der Traum von Paul Ehrlich, dem Immunforscher, der Anfang des 20. Jahrhunderts von einer "Zauberkugel" sprach, die genau die kranke Zelle treffen kann. Die Krebsmedizin sucht nach einer solchen Therapie, die gezielt nur den Krebs entfernt. Chemotherapie ist eher wie eine Schrotflinte, die sehr weit auch in den gesunden Bereich hinein streut. Inzwischen gibt es schon zielgerichtete Therapien wie Immuntherapie, Therapien mit Antikörpern oder kleinen Molekülen. Die Hormontherapie ist ebenfalls vergleichsweise zielgerichtet. Diese Behandlungsformen haben zum Teil deutlich geringere Nebenwirkungen als die Chemotherapie. Es gibt einen klaren Fortschritt, doch es gibt in der Medizin nun mal die einfache Wahrheit: Was Wirkungen hat, hat auch Nebenwirkungen. Das muss man in gewisser Weise wohl auch in Zukunft in Kauf nehmen.

LEADERSNET: Sie haben auch über die psychologische Bewältigung der Krankheit geschrieben. Was waren Ihre wichtigsten Strategien, um mit den emotionalen Herausforderungen umzugehen?

Wewetzer: Wichtig ist, Menschen zu haben, die zu einem stehen. Und es ist von zentraler Bedeutung, so etwas wie Urvertrauen zu haben, den Glauben an den Sinn des Lebens, wie es Viktor Frankl, der Psychotherapeut, beschrieben hat. Frankl sagte, dass das Leben Sinn hat bis zum letzten Atemzug, jeder Tag hat Sinn. Das sollte man sich vor Augen halten. Es ist eine wichtige Grundidee, diesen Sinn zu finden, auch in einer schwierigen Lage. Frankl sagte: "Schlimm ist nicht das Leiden an sich, sondern das Leiden ohne Sinn." Wenn man dieses Grundvertrauen, dieses Urvertrauen nicht hat, dann ist alles schwieriger.

LEADERSNET: Welche praktischen Ratschläge würden Sie anderen Krebspatienten und deren Angehörigen geben, die sich gerade am Anfang ihrer eigenen Reise befinden?

Wewetzer: Das Wichtigste ist zunächst, Klarheit zu erlangen: Womit bin ich konfrontiert? Was ist das für eine Krankheit? Wie sieht die Therapie aus? Was muss ich jetzt tun – familiär, beruflich, um meine Sachen zu ordnen? Zweitens sollte man Wesentliches zuerst machen. Tue das Wichtige jetzt und lasse das Unwichtige weg. Kümmere dich nicht um Nebensächlichkeiten. Drittens sollte man im Jetzt leben. Lebe diesen Tag, genieße diesen Tag. Was morgen ist, weißt du nicht. Zuletzt ist es wichtig, zuversichtlich zu bleiben. Man sollte versuchen, seine Zuversicht zu bewahren und aus ihr Kraft schöpfen.

LEADERSNET: Würden Sie rückblickend etwas anders machen, sei es vor der Diagnose oder zum Zeitpunkt der Diagnosestellung?

Wewetzer: Vermutlich eher nicht. Es ist ein großes Problem von Krebspatienten, sich selbst Vorwürfe zu machen: Habe ich mich falsch ernährt? Waren psychische Krisen die Ursache? Nicht selten hat auch die Umgebung vermeintlich gute Tipps oder meint genau zu wissen, warum der Krebs ausgebrochen ist. Aber häufig ist es eben nicht so einfach. Man kann die Entstehung von Krebs oft nicht entscheidend beeinflussen. Es gibt natürlich klare Risikofaktoren wie in allererster Linie das Rauchen, hinzu kommen in geringerem Maße ungesunde Ernährung, starkes Übergewicht und Bewegungsarmut. Aber die Krebsentstehung ist ein komplizierter und noch nicht völlig verstandener Prozess. Jeder kennt Menschen, die "alles richtig gemacht haben" und trotzdem erkrankt sind. Wissenschaftlich gesehen entsteht Krebs in einer einzigen Zelle, die genetisch sehr stark verändert ist. Diese Veränderungen häufen sich im Laufe unseres Lebens an, weshalb Krebs vor allem eine Krankheit des Alters ist. Es ist eine Bürde der höheren Lebensjahre, ein Risiko, dem wir alle ausgesetzt sind und das wir nicht in der Hand haben. Krebs ist oft einfach Pech. Deswegen sind die Schuldgefühle häufig nicht gerechtfertigt.

LEADERSNET: Sie waren erfolgreich in der Bewältigung dieses Krebses. Was möchten Sie anderen Krebspatienten mit auf den Weg geben, die sich gerade mitten im Kampf gegen den Krebs befinden? Was war für Sie vielleicht der wichtigste Schritt in der Genesung?

Wewetzer: Man sollte der eigenen Intuition vertrauen. Was sagt meine innere Stimme zu mir? Wo soll ich jetzt hingehen? Was ist mein Weg? Diese Intuition ist etwas Fundamentales in uns Menschen. Versuchen Sie daraus, Gelassenheit zu entwickeln. Die griechischen Philosophen, besonders die Stoiker, haben schon sehr früh gelernt und gelehrt, wie man ein Mensch wird, der in sich ruhen kann. Und man kann es nicht genug betonen: Versuchen Sie, sich des Tages zu erfreuen, im Hier und Jetzt zu sein und das Leben zu genießen.Buch-Cover Überlebt

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