LEADERSNET: Wie findet man die Balance zwischen wohltätiger Organisation und Unternehmertum?
Serkan Eren: Muss man die überhaupt finden? Wir bei STELP wollten von Anfang an einiges anders machen. Wir haben ein duales Spendensystem ins Leben gerufen, das heißt, dass bei uns Spender:innen entscheiden können, ob ihre Spende in ein Hilfsprojekt fließen soll oder ob sie unsere Strukturkosten spenden wollen. Das ermöglicht uns eine 100-prozentige Transparenz.
Ich habe zwei Social Businesses gegründet, über die wir unabhängiger von Spenden werden wollen und eigene Wege finden, wie wir Geld für den guten Zweck verdienen. Viele andere NGOs arbeiten nicht so eng wie wir mit Unternehmen zusammen. Ich bin der Meinung, dass man hier viele Ressourcen verschwendet. Wir haben unseren Hauptsitz in Stuttgart, einer der wohlhabendsten Regionen Deutschlands und damit auch der Welt und sollten dieses Privileg, in einem solchen Wohlstand geboren zu sein, auch nutzen. Der Unterschied, der wirklich jeden Tag ersichtlich ist, ist dass wir mit unserer Arbeit Leben verändern. Leben retten.
LEADERSNET: Wie kam es zur Gründung?
Serkan Eren: Dafür muss ich tatsächlich ein bisschen ausholen. Ich hatte keine besonders schöne Kindheit, ich bin in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Mit meinem alleinerziehenden Vater und meinen zwei Geschwistern habe ich meine Kindheit über in einer Wohnbausiedlung gewohnt. Nach verschiedenen Stationen in Villingen-Schwenningen und Kehl bin ich dann in Stuttgart gelandet und habe dort als Personal Trainer für die "Schönen und Reichen" gearbeitet. Und das auch ziemlich erfolgreich und lukrativ.
Wenn ich mein damaliges Leben aus meiner heutigen Perspektive betrachte, habe ich ein sehr egoistisches Leben geführt. Es ging nur um mich, um die nächste Party und den nächsten Urlaub. Dann hatte ich einen schweren Autounfall mit Nahtoderfahrung. Danach hat sich vieles in meinem Leben geändert. Ich konnte nicht mehr als Personal Trainer arbeiten und wurde Sportlehrer in einer Privatschule. Vor allem haben mich die Frage nach dem Sinn des Lebens und wie ich mein Leben gestalten möchte beschäftigt.
Sieben Jahre später habe ich verstanden, dass es nichts bringt, "nur" bessere Gedanken und diesen Mindset-Wechsel zu haben. Während der ersten Flüchtlingswelle 2015 habe ich mit einem Freund beschlossen, dass wir etwas machen müssen. Dass wir aktiv werden müssen. Über Facebook haben wir damals einen ersten Sachspendentransport gesammelt und sind über den Balkan gefahren und haben dort Decken und Lebensmittel an Menschen verteilt, die auf der Flucht sind. Der erste Einsatz hat mein ganzes Leben verändert.
LEADERSNET: Wie betreiben Sie Recruiting?
Serkan Eren: Ich habe das Glück, dass ich ein super Team um mich aufgebaut habe. Bei den Menschen, die wir einstellen, ist es mir vor allem wichtig, dass sie ins Team passen. Dass sie den Spirit spüren und wissen, für was sie jeden Tag aufstehen. Es ist mir egal, ob meine Mitarbeiter:innen Abitur haben oder eben nicht. Ob sie studiert haben oder eine Ausbildung gemacht haben. Ich bin der Meinung, dass man alles lernen kann. Wichtig ist mir das Mindset. Wir sind mittlerweile ein achtköpfiges Team. Ein paar der Angestellten haben davor bei uns als Volunteers gearbeitet, ein Großteil kam aber über gängige Jobportale wie GoodJobs zu uns. Wie man herausfindet, ob die Person ins Team passt? Über einen guten Auswahlprozess und viele Gespräche.
LEADERSNET: Wie bereiten Sie Mitarbeitende auf Einsätze vor?
Serkan Eren: Die meisten unserer Einsätze sind ja lange im Voraus geplant, dann gibt es natürlich Vorbereitungen, Absprachen mit den lokalen Helfer:innen vorab. Unsere Volunteers auf Lesbos beispielsweise bekommen ein Briefing und eine Einführung, wie sie sich vor Ort verhalten müssen, wie man mit Menschen auf der Flucht umgeht und wissen genau, was sie erwartet. Sie werden auf Wunsch vor, während und nach ihrem Aufenthalt von einer psychologischen Fachkraft begleitet.
Anders sieht das natürlich nach Katastrophen wie Erdbeben oder einem Kriegsbeginn aus. Eines vorab: Keiner muss bei uns auf Einsätze gehen. Alle machen das freiwillig. Unser Projektteam kommt aus der humanitären Hilfe und sind alle Vollprofis, sie können abschätzen, was sie nach einem Erdbeben in Marokko beispielsweise erwartet.
Natürlich ist das in der Theorie immer nochmal etwas anderes. Wenn man wirklich vor Ort ist, wenn man die Gerüche nicht mehr aus der Nase bekommt. Das macht etwas mit einem. Jeder kann aber selbst entscheiden, wie weit man geht. Zu Beginn des Krieges in der Ukraine war es zum Beispiel so, dass mich ein Team bis zur polnisch-ukrainischen Grenze begleitet hat und ich dann alleine weiter bin. Durch meine Nahtoderfahrung habe ich keine große Angst mehr vor dem Tod. Das kann ich aber natürlich nicht von meinen Mitarbeitenden erwarten und verlangen.
LEADERSNET: Gibt es danach eine Betreuung?
Serkan Eren: Natürlich! Jeder unserer Volunteers sollte nach dem Einsatz ein Gespräch mit einer psychologischen Fachkraft führen. Wir legen das allen Volunteers ans Herz. Die Entscheidung wird aber immer individuell getroffen. Die allermeisten kommen mit dem Gesehenen gut klar, einige wenige brauchen etwas länger, um es aufzuarbeiten. Auch unsere Mitarbeiter:innen haben die Möglichkeit, professionell begleitet nach dem Einsatz zu sprechen.
LEADERSNET: Was bedeutet Ihnen das Bundesverdienstkreuz?
Serkan Eren: Das Bundesverdienstkreuz sehe ich als Auszeichnung und Anerkennung für unsere Arbeit. Ich sage bewusst unsere. Denn ich bin nur ein kleines Zahnrad im STELP-System. Gemeinsam mit mir arbeiten jeden Tag so viele Menschen daran, die Mission von STELP nach außen zu tragen. Egal ob es unsere Volunteers sind, die in unserem Non-Profit-Cafe Bar ehrenamtlich eine Schicht übernehmen, Mohammed, unser Mann im Jemen, der dafür sorgt, dass tausende Kinder jeden Tag in unseren Suppenküchen eine warme Mahlzeit bekommen oder unsere Teamassistentin, die die täglich anfallenden Mails beantwortet. Das Bundesverdienstkreuz zeigt mir, dass unsere Arbeit gesehen wird. Deshalb ist es mir wichtig und es macht mich extrem stolz.
LEADERSNET: Wie blickt Ihre Familie auf Ihre Arbeit?
Serkan Eren: Meine Frau kennt mich schon als den "alten" Serkan, den vor STELP. Sie ist mit mir durch alle Phasen von STELP gegangen und hat mich auf dem Weg hierhin extrem unterstützt. Sie hält mir den Rücken frei und hat größtes Verständnis, wenn ich auf Einsätze gehe und ist einfach immer für mich da. Ich bin unglaublich froh, dass sie mich so unterstützt. Wir haben letztes Jahr geheiratet und irgendwann planen wir auch eine eigene Familie.
LEADERSNET: Wie sehen Sie Ihre Arbeit perspektivisch – ist Ihre Arbeit eine Lebensaufgabe?
Serkan Eren: Das kann ich auf jeden Fall mit ja beantworten. Seit ich STELP vor acht Jahren gegründet habe, hat sich mein Leben komplett verändert. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht arbeite; an dem ich nichts für STELP mache. Das hat auch Schattenseiten, ich möchte es hier nicht nur beschönigen. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, jemals wieder etwas anderes zu machen.
Aber auch ich werde nicht jünger, ich bin vor wenigen Tagen 40 geworden. Da fängt man natürlich schon auch an, über das eigene Leben nachzudenken. Perspektivisch möchte ich nicht mehr so viel unterwegs sein, sondern mehr Zeit mit meinen Liebsten verbringen. Wir sind gerade auf einem guten Weg ein Team aufzubauen, das neben mir auch eigenständig in Krisenregionen gehen kann. Ich nenne es liebevoll das Team der Verrückten. Denn ein bisschen verrückt muss man schon sein, um ein Leben wie meines zu führen.
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