Vom vorletzten Platz ins europäische Mittelfeld: Deutsche werden zunehmend digitaler

70 Prozent nutzen mittlerweile digitale Dienste für Lebensmitteleinkauf, Bankgeschäfte oder Behördendienstleistungen.

Nach dem starken Anstieg durch die Coronapandemie ist die Nutzung digitaler Kanäle in fast allen europäischen Ländern in diesem Jahr etwas zurückgegangen. 15 von 19 europäischen Ländern verzeichnen nach Lockerung der Corona-Einschränkungen ein Wiedererstarken physischer Kanäle, etwa beim Einkauf im Supermarkt, im Modegeschäft oder dem Besuch der Bankfiliale.

Die deutsche Ausnahme

Deutsche Verbraucher:innen bilden eine der wenigen Ausnahmen: Hier konnten seit vergangenem Jahr knapp vier Millionen neue Nutzer:innen hinzugewonnen werden, die erstmals online einkauften, eine Versicherung abschlossen oder eine Reise buchten. Gegenüber 2021 entspricht das einem Wachstum von fünf Prozentpunkten (PP).

Ursächlich für das Wachstum ist vor allem eine stärkere Nutzung digitaler Lösungen in den Branchen Banking (+14 PP auf insgesamt 86 Prozent), Gesundheitswesen (+14 PP auf insgesamt 44 Prozent) und Lebensmittelhandel (+11 PP auf insgesamt 21 Prozent). In Summe ist die Akzeptanz digitaler Interaktion über Apps, Chats oder Webseiten weit mehr als ein pandemischer Trend – Europa hat seit 2019 im Durchschnitt einen Nettozuwachs von 100 Millionen Online-Nutzer:innen erlebt.

Dies sind zentrale Ergebnisse des "Digital Sentiment Survey", einer repräsentativen Umfrage von McKinsey & Company, an der zwischen dem 15. bis 31. März über 25.000 europäische Verbraucher:innen (18-85 Jahre) aus 19 Ländern, darunter über 1.500 aus Deutschland, teilnahmen. Die online-gestützte Umfrage untersucht, wie sich das digitale Nutzungsverhalten der Verbraucher:innen binnen der vergangenen sechs Monate verändert hat und liefert eine Prognose für weitere Änderungen in der nahen Zukunft. Der Digital Sentiment Survey 2022 ist die dritte Auflage der erstmalig 2020 durchgeführten Verbraucherumfrage.

Deutschlands Verbraucher:innen werden stetig digitaler

Insgesamt lässt sich eine Annäherung des Digitalverhaltens an den europäischen Durchschnitt beobachten: Rund 85 Prozent der Europäer:innen mit Internetzugang haben während der vergangenen sechs Monate mindestens einen digitalen Dienst aus dem Bereich Lebensmittel, Banking, Versicherungen, Einzelhandel, Unterhaltung, Bildung, öffentliche Verwaltung oder Gesundheit genutzt.

2021 hielten Deutschlands Verbraucher:innen trotz Zuwachs noch die rote Laterne: Nur 65 Prozent der deutschen Verbraucher:innen hatten 2021 digitale Dienste genutzt. Mit jetzt 70 Prozent Digital-Nutzer:innen rückt Deutschland auf Platz 13 im europäischen Vergleich vor. Neben Deutschland zählen auch Österreich (+7 PP), Finnland (+3 PP) und die Schweiz (+0,5 PP) zu den Ländern mit Online-Zugewinnen. Alle anderen Länder zeigen teilweise deutliche Rückgänge in der Digitalnutzung zugunsten von physischen Kanälen, etwa dem Gang in den stationären Handel (Frankreich -11 PP, Portugal -13 PP, Tschechien -14 PP).

"Europas und Deutschlands Verbraucherinnen und Verbraucher interagieren im New Normal mit deutlich mehr Branchen über digitale Kanäle als vor der Pandemie. Die Entwicklung ist unumkehrbar und wird sich über die jungen Generationen noch einmal verstärken", sagt Gérard Richter, Leiter von McKinsey Digital in Deutschland und Senior Partner im Frankfurter Büro von McKinsey.

Die digitalen Gewinner: Banking und Gesundheitswesen

Allerdings unterscheidet sich der digitale Nutzungsgrad zwischen den untersuchten Branchen teilweise erheblich. Banking erlebt absolut den größten Zuwachs bei vollkommen digitalen Nutzern (+33 PP): Rund 86 Prozent der Nutzer:innen von Bankdienstleistungen gaben an, diese ausschließlich digital zu nutzen. Der Wert stellt nach Unterhaltung (88 Prozent) die zweithöchste Durchdringung in der erwachsenen Bevölkerung dar..

Im Gesundheitswesen ist die Digitalisierung ebenso angekommen: Zwar geben die Verbraucher:innen an, dass nach wie vor im Gesundheitswesen eine große Präferenz für persönlichen Kontakt besteht – der je nach Leistung ohnehin unabdingbar ist – doch gaben rund 44 Prozent der Befragten an, in diesem Sektor in den letzten sechs Monaten rein digitale oder digital-unterstützte Angebote wahrgenommen zu haben.

Zu diesen Angeboten gehört insbesondere die digitale Kontaktaufnahme mit dem Arzt bzw. der Ärztin oder der Krankenversicherung per Mail oder Chat – jede:r dritte Digitalnutzer:in hat dies bereits versucht. Auch Wellness- bzw. Gesundheitsmonitoring-Apps und -Onlinediensten (27 Prozent) und Online-Diagnose/Symptom-Checker (21 Prozent) wurden genutzt. Dagegen spielen Video-Sprechstunden bzw. Online-Therapie noch eine eher untergeordnete Rolle (11 Prozent).

Öffentliche Verwaltung als digitaler Verlierer

Signifikante Verluste in der Nutzung von Onlinediensten verzeichnet der öffentliche Sektor mit -18 PP gegenüber 2021. Hochgerechnet entspricht dies einer Summe von knapp vier Millionen Nutzer:innen. "Ein Teil dieser massiven Verluste kann wahrscheinlich indirekt mit Kurzarbeitergeld und Jobverlusten im Jahr 2020 erklärt werden", sagt Frank Sartorius, Associate Partner bei McKinsey Digital.

Mehrere Millionen Arbeitnehmer:innen bezogen im ersten Pandemiejahr Kurzarbeitergeld und waren dadurch 2021 zu einem großen Teil erstmalig zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtet, die in der Regel online erfolgte. Mit 56 Prozent war die online abgegebene Steuererklärung die am häufigsten genutzte Dienstleistung des öffentlichen Sektors, gefolgt von der Beantragung amtlicher Bescheinigungen bzw. Dokumente (37 Prozent) und der Aktualisierung von Daten (26 Prozent). "Mit dem erfreulichen Rückgang der Kurzarbeit seit 2021 gibt es folgerichtig auch einen Rückgang zur Pflicht eine Steuererklärung abzugeben", so Sartorius.

Sorge um den Schutz persönlicher Daten bleibt

Die Zufriedenheit der aktiven Nutzer:innen von Online-Diensten stieg über alle Sektoren hinweg leicht an – von 3,81 im Jahr 2021 auf 3,95 auf einer Skala von eins bis fünf. Hauptgrund für Unzufriedenheit sind schlechtes Nutzungserlebnis und Design. Das beste Nutzungserlebnis verbucht der Banking-Bereich (4,2).

Kaum verändert hat sich hingegen das Vertrauen der Nutzer:innen in digitale Services. Jede:r Dritte sorgt sich um den Umgang mit personenbezogenen Daten. Darüber hinaus hat im Vergleich zum letzten Jahr auch die Sorge vor Cyberattacken zugenommen: Fast jede:r dritte Nutzer:in misstraut digitalen Angeboten aus Angst – direkt oder indirekt – Opfer eines Cyberangriffs zu werden. Demgegenüber befürchtet jedoch nur rund jeder fünfte Nutzer nicht ausreichend dafür kompensiert zu werden, wenn online irgendetwas schief läuft.

So wirken sich wichtige Technologietrends aus

Aktuelle technologische Schlüsseltrends wie künstliche Intelligenz, Kryptowährungen, Hyperpersonalisierung oder Metaverse haben mit über 80 Prozent einen hohen Bekanntheitsgrad in der Bevölkerung. Dabei erwarten die Befragten im Fall von künstlicher Intelligenz mehrheitlich positive Effekte für digitale Angebote (40 Prozent positiv gegenüber 27 Prozent negativ). Ein leicht positives Übergewicht besteht sonst nur beim Thema Metaverse (26 Prozent positiv gegenüber 20 Prozent negativ).

"Gegenüber Kryptowährungen und dem Trend zur Hyperpersonalisierung bleiben die Deutschen zusammen mit den Österreichern in Europa die größten Kritiker und sehen diese Trends eher negativ. Das ist ein klarer Auftrag an Unternehmen wie Politik, die positiven Effekte neuer Technologien klarer an Verbraucherinnen und Verbraucher zu kommunizieren", fasst Gérard Richter zusammen.

www.mckinsey.de

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