nackt und mit body positivity
Der Pirelli-Kalender 2025 feiert die Ästhetik von Narben und Falten

| Redaktion 
| 17.11.2024

Seit sechs Jahrzehnten gilt der Pirelli-Kalender, kurz "The Cal“, als Seismograph gesellschaftlicher Strömungen. Die Ausgabe 2025, fotografiert von Ethan James Green, kehrt mit dem Motto "Refresh and Reveal“ zu den Wurzeln der Aktfotografie zurück – allerdings auf eine Weise, die die ästhetischen und moralischen Ansprüche der Gegenwart widerspiegelt. Schönheit, Würde und Vielfalt stehen im Mittelpunkt eines Werks.

Der Pirelli-Kalender hat sich längst von seinen ursprünglichen Wurzeln als Werbegeschenk für Reifenhändler gelöst. Was einmal als Glamourprojekt begann, ist heute ein Ausdruck zeitgenössischer Kunst und kultureller Reflexion. Für die 51. Ausgabe steht die Aktfotografie wieder im Vordergrund – doch die Bilder sind alles andere als traditionell.

"Ethan James Greens Kalender zeigt, dass wir auch in schwierigen Zeiten von Schönheit und Würde umgeben sind,“ erklärt Marco Tronchetti Provera, der Vice Chairman von Pirelli bei der Gala anlässlich der Vorstellung des neuen Exemplars in London. Der in Michigan geborene und heute in New York lebende Green, bekannt für seine Arbeit mit Vogue und Modemarken wie Prada oder Versace, setzt dabei auf ein feines Spiel aus Intimität und Respekt. Kein Bild wirkt voyeuristisch oder aufdringlich, sondern präsentiert den menschlichen Körper als Ausdruck von Individualität und künstlerischer Anmut.

Auch der Fotograf selbst hat posiert

Green selbst, der auch als Model in den Kalender aufgenommen wurde, erklärt, warum er sich entschloss, vor der Kamera zu stehen: "Es war wichtig, dass nicht nur Frauen sich nackt zeigen. Es geht um Ausgewogenheit.“ Damit nimmt der Fotograf eine Rolle ein, die gleichermaßen künstlerisch wie politisch ist: Der Kalender wird zum Sinnbild für Diversität und die Freiheit der Selbstdarstellung.

Vielfalt statt Perfektion

Die Besetzung des Kalenders könnte kaum vielfältiger sein. Unter den zwölf abgebildeten Persönlichkeiten sind bekannte Gesichter aus Film, Kunst und Mode: Simone Ashley, bekannt aus Bridgerton, Hunter Schafer aus Euphoria und Vincent Cassel, französischer Schauspieler und Star aus Filmen wie Black Swan und La Haine. Sie alle stehen für unterschiedliche Facetten von Schönheit, von klassischen Idealen bis zu unkonventionellen Formen.

"MeToo hat nichts mit Nacktheit zu tun, sondern mit Zwang“, erklärt Padma Lakshmi, ebenfalls Teil des Kalenders und langjährige Moderatorin von Top Chef. "Wenn Einwilligung gegeben ist, ist alles möglich.“ Dieser Gedanke zieht sich durch Greens Arbeit: Jedes Model durfte selbst entscheiden, wie viel es zeigen wollte. Statt Kleidung kamen oft natürliche Requisiten wie Treibholz oder Palmwedel zum Einsatz – ein Verweis auf die Verbindung zwischen Mensch und Natur.

Narben und Falten werden betont statt kaschiert

Die Aufnahmen entstanden in Miami, teils in einem Studio, teils am historischen Virginia Key Beach Park. Green wechselt zwischen Schwarz-Weiß und Farbe und lässt sich dabei von Tanzfotografie, antiker Skulptur und klassischer Aktmalerei inspirieren. Herausgekommen ist eine Serie, die sich mit den Grenzen von Ästhetik und Körperlichkeit beschäftigt. Narben, Altersfalten oder nicht-normative Körperformen werden nicht kaschiert, sondern betont – eine bewusste Abkehr von makellosen Model-Idealen.

Diese Entscheidung spiegelt auch den Wandel wider, den der Kalender über die Jahrzehnte durchlaufen hat. Einst ein Symbol für männlich konnotierte Hochglanzfantasien, steht er heute für Vielfalt und die Einzigartigkeit jedes Menschen. Das Konzept von "Refresh and Reveal“ ist mehr als ein Slogan: Es ist ein Appell, den Menschen in seiner Gesamtheit zu sehen, frei von Klischees oder Konventionen.

Wie immer nur als Geschenk erhältlich

Wie in den Jahren zuvor bleibt der Pirelli-Kalender ein seltenes Artefakt. Von den 11.000 gedruckten Exemplaren wird keines verkauft – sie werden ausschließlich an Freunde, Kunden und Sammler verteilt. Das unterstreicht die Bedeutung des Kalenders als Prestigeobjekt: Er ist nicht nur ein Stück Fotokunst, sondern auch ein Kulturgut, das die Werte seiner Zeit einfängt.

Die Rückkehr zur Aktfotografie unterstreicht auch, wie tiefgreifend sich gesellschaftliche Debatten auf Kunst und Kultur auswirken. Bewegungen wie #MeToo und Body Positivity haben den Blick auf den menschlichen Körper verändert. Der Kalender zeigt, dass Nacktheit weder skandalös noch rein ästhetisch ist – sie kann auch ein Akt des Stolzes und der Befreiung sein.

Mit dieser Ausgabe gelingt Pirelli ein Spagat: Der Kalender knüpft an seine Geschichte an, ohne in Nostalgie zu verfallen. Er feiert die Kunst, den Menschen in all seinen Facetten zu zeigen, und mahnt zugleich, die Einzigartigkeit jedes Individuums zu achten. Die ästhetische Schönheit mag zeitlos sein, doch ihre Darstellung ist stets ein Spiegel ihrer Epoche.

 

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