Professorin im Interview
Antoinette Weibel: "Wenn wir Ziele und Messbarkeiten definieren, wird nur das Messbare gemacht“

Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass exorbitante Gehälter die Crème de la Crème des Managements anlocken, argumentiert Prof. Dr. Antoinette Weibel von der Universität St. Gallen für einen differenzierteren Ansatz in der Führungskräftevergütung. Scharf kritisiert die renommierte Wirtschaftswissenschaftlerin eine kleine, aber einflussreiche Gruppe von Topmanagern, deren astronomische Bezüge in keinem Verhältnis zu ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stehen.

Die Expertin für Corporate Governance plädiert außerdem für ein Umdenken in der Rekrutierungsstrategie von Unternehmen. Ihrer Meinung nach sollten Firmen gezielt nach Führungskräften Ausschau halten, deren Motivation über rein monetäre Anreize hinausgeht. Weibel betont, dass eine nachhaltige Unternehmensführung Persönlichkeiten erfordert, die neben finanziellen Aspekten auch ethische, soziale und ökologische Faktoren in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen.

Erzählen Sie uns von Ihrem Hintergrund. Wie sind Sie aufgewachsen? Wie haben Ihre Kindheit und Ihr Aufwachsen Ihren Weg als Wirtschaftswissenschaftlerin beeinflusst?

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendein Kind gibt, was auf dem Boden sitzt und sagt: "Ich möchte Professorin werden“. Ich wollte Tierärztin werden. Das möchten, glaube ich, ganz viele Mädchen, oder? Also ganz klassisch. Aber wenn ich so ein bisschen zurückblicke, hat es vielleicht schon ein paar Sachen gegeben, die mir zumindest den Weg dorthin, wo ich jetzt bin, erleichtert haben.

In meiner Familie gibt es, glaube ich, nur starke Frauen. Die haben mir immer suggeriert: "Du kannst machen, was du möchtest in deinem Leben; du kannst alles erreichen.“ Das ist natürlich gerade für ein Mädchen hilfreich. Also ich habe immer schon gedacht, dass ich irgendwo Chefin sein werde, aber das mag auch mit meinem Charakter zusammenhängen. Dann war ich ein unglaublicher Bücherwurm – das hilft auch. Wenn man gerne liest, dann findet man es nicht schlimm, wenn man so viel lesen muss, bis man Professorin ist.

Eine neue Spezies von Reichen sind exorbitant hoch bezahlte Manager. Zum ersten Mal in der Geschichte bekommen Manager Gagen, die sie selbst reich werden lassen. Elon Musk wurde ein Gehaltspaket von 50 Milliarden Dollar zugesprochen und vielerorts verdienen sie das 100-fache oder mehr eines durchschnittlichen Angestellten. Eine gesunde Entwicklung? Welche Folgen haben Ihrer Meinung nach die überhöhten Vergütungen für Unternehmen und die Gesellschaft?

Musk ist natürlich ein totaler Ausreißer. Hier würde ich schon fast sagen, dass dieser Herr so was von durchgeknallt ist, dass man das vielleicht gar nicht ernst nehmen darf. Da muss man sich nur fragen, warum die Aktionäre ihm dieses Paket trotzdem zusprechen. Aber ganz generell haben die CEO-Gehälter, besonders in börsennotierten Unternehmen, mittlerweile ein Niveau erreicht, das alles übertrifft, was wir bisher gekannt haben. Wir sehen Fälle, in denen das Gehalt eines CEOs 200- bis 1000-mal höher ist als der durchschnittliche Lohn im gleichen Unternehmen – damit wird man wirklich sehr reich.

Dadurch entsteht in der Gesellschaft letztlich eine Struktur, in der sich eine neue Elite herausgebildet hat. Ich finde das aus zwei Gründen problematisch: Erstens zwischen besagter Spreizung, diesem Unterschied zwischen dem, was Mitarbeitende und CEOs verdienen. Wir können beobachten, dass dies zu Unzufriedenheit und in einigen Unternehmen auch zu Protesten führt. Weniger im Sinne von Leuten mit hochgehaltenen Protestschildern, aber im Sinne davon, dass sie "Das finde ich hier nicht okay“ sagen; sich weniger engagieren und weniger oder schlecht über das jeweilige Unternehmen reden. Es gibt diese Protestformen, die wir zwar nicht messen können, aber von denen man sagen kann: Die sind vorhanden und die sind sogar teuer.

Das ist gewissermaßen ein Kampf der Narrative. Es ist natürlich einfacher zu sagen, dass die Leute alle neidisch sind. Das sind die Bösen, die sich aufregen. Es ist was ganz anderes zu sagen: "Wir haben es hier mit Ungerechtigkeit zu tun“. Ein Vergleich dazu: In den 60er-Jahren hat ein durchschnittlicher CEO nicht mehr als zwölfmal so viel wie der einfachste Mitarbeiter im Unternehmen verdient. Das sollte uns zu denken geben, weil Gerechtigkeit ja etwas mit mehr Leistung zu tun haben würde. Man würde sagen, dass der halt auch 200-mal mehr leistet, weil er so wichtig da oben sitzt, so viel bewegen kann, oder? Wenn man jetzt aber den Vergleich anstellt, dann finde ich, muss man das Fragezeichen schon groß halten. Damals waren die Firmen zum Teil extrem erfolgreich, sehr innovativ und trotzdem hat der CEO nur zwölfmal mehr verdient und nicht 200-mal mehr. Das würde ich gerne zunächst aus Gerechtigkeitsaspekten verstehen.

Das zweite Problem: Es hat natürlich nicht nur damit zu tun, dass diese Unterschiede so groß sind. Da stören wir uns am meisten dran. Es hat aber auch etwas damit zu tun, wie diese Unterschiede zustande kommen. Und die kommen zustande, indem wir viel stärker mit langfristigen und kurzfristigen Zielanreizen arbeiten und indem wir mit Optionsplänen, Derivaten oder umstrittenen Vergütungsstrukturen arbeiten.

Also auch die Art und Weise, wie die Höhe des Lohnes zustande kommt, ist problematisch?

Genau. Gerade Boni, ob an kurzfristige oder langfristige Ziele gekoppelt, führen häufig dazu, dass man sich nur noch darauf konzentriert, wo das Ziel hin definiert wurde. Und jetzt wissen wir natürlich alle, dass es relativ unsinnig ist, weil gerade von einem CEO erwartet wird, dass der eben auch reagieren kann, wenn es mal kein Ziel dafür gibt. Strategie bedeutet ja gerade, auch in unsicheren Situationen gute Entscheidungen zu treffen. Das hingegen nehmen wir dann weg, wenn wir sagen "Du hast dieses Ziel hier zu erreichen“. Wir können uns die Deutsche Bahn anschauen, wo man an sehr tief gehängten Zielen gemessen wurde und dann sehr hohe Boni ausgeschüttet wurden in einer Zeit, in der die Deutsche Bahn besonders schlecht performt hat.

DHL, der größte Logistikkonzern der Welt, bindet die Vorstandsgehälter an ESG-Ziele. Ist das sinnvoll oder was braucht es stattdessen?

Im Bereich ESG gibt es natürlich Aspekte, die supergut messbar sind, wie der CO2-Abdruck, und andere Dinge, die sehr schlecht messbar sind - etwa die ganzen sozialen Ziele. Also kriegen wir auch dort wieder eine Verzerrung. Man versucht dann vielleicht, den CO2-Abdruck zu verringern, sagt gleichzeitig aber: "Die sozialen Ziele sind uns egal, weil man die ohnehin nicht gut messen kann.“

Das Problem ist: Wir können häufig die wichtigen Dinge nicht messen. Wenn wir möchten, dass Leute wichtige Dinge tun, dann sollten wir nicht Ziele und Messbarkeiten definieren - weil wir dann wissen, dass nur das Messbare gemacht wird.

Sie vertreten die kontroverse These, dass Spitzengehälter nicht automatisch die besten Führungskräfte anziehen. Was sind die zentralen Argumente für diese Sichtweise?

Diese These stimmt in der Tat, aber nicht für alle Branchen. Wenn man Leute primär mit Geld anzieht, bekommt man eher "Söldner“ als Menschen, die wirklich für ein Unternehmen brennen. Diesen Effekt sehen wir manchmal im Investmentbanking oder ähnlichen Bereichen mit sehr hohen Boni. Wir sollten uns fragen: Wollen wir Unternehmensführer, die nur wegen des Geldes kommen, oder solche, die Visionen haben und das Unternehmen voranbringen möchten?

Zudem muss man bedenken, dass über 80 Prozent der CEOs intern befördert werden. Es gibt also kaum einen externen Arbeitsmarkt auf dieser Ebene. Interne Beförderungen sind oft besser, da diese Personen das Unternehmen und die Netzwerke kennen und in der Regel eine bessere Performance erbringen als externe Kandidaten. Wenn wir so tun, als gäbe es einen offenen Arbeitsmarkt für CEOs, führt das zu einer Art Selbstbedienungsmentalität. Unternehmen argumentieren, sie müssten die Gehälter erhöhen, um attraktiv zu sein, obwohl es kaum echte Abwerbungen auf diesem Niveau gibt.

In Ihren Forschungsarbeiten sprechen Sie von einer "Kultur der Mäßigung“. Wie könnte eine solche Kultur in Unternehmen konkret aussehen und gefördert werden? Welche alternativen Anreize schlagen Sie vor, um hochqualifizierte Führungskräfte zu gewinnen und zu binden?

Für eine Kultur der Mäßigung ist es wichtig, nicht nur auf Intelligenz und Charisma zu achten, sondern auch auf Eigenschaften wie Realitätssinn, Zuhörfähigkeit und Bescheidenheit bei der Auswahl von Führungskräften. Bescheidenheit bedeutet hier auch, sich von anderen beraten zu lassen und verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Bezüglich der Anreize würde ich für ein stärkeres Fixlohnsystem plädieren. Erfolgsbeteiligungen sollten für alle Mitarbeitenden gelten, nicht nur für Führungskräfte. Für CEOs können langfristig gesperrte Aktien sinnvoll sein, um sie zu echten Unternehmern zu machen. Führungskräfte sollten generell eher eine dienende Rolle einnehmen - dienend dem Unternehmen und den Mitarbeitenden gegenüber. Sie sollten es anderen ermöglichen, sich einzubringen und gemeinsam das Unternehmen voranzubringen.

Sie plädieren in Ihren Forschungsarbeiten außerdem für einen Salary Cap für CEOs. Wie könnte eine solche Obergrenze aussehen und welche Auswirkungen hätte das auf die Unternehmenskultur? Weder die jüngst geschaffenen Transparenzerfordernisse noch die "Say on Pay“-Bestimmungen (den Aktionären eines Unternehmens wird das Recht eingeräumt, über die Vergütung der Führungskräfte abzustimmen) führten zu einer Eindämmung astronomischer Gehälter.

Ein Salary Cap wäre sinnvoll; besonders für Unternehmen, die in irgendeiner Weise vom Staat unterstützt werden. Das schließt nicht nur staatsnahe Betriebe ein, sondern beispielsweise auch Großbanken, die als "too big to fail“ gelten. Die genaue Höhe ist schwierig festzulegen. In der Schweiz wurde über ein Verhältnis von 12:1 abgestimmt, aber vielleicht reicht auch 30:1. Das wäre immer noch ein sehr guter Lohn. Was bisher nicht funktioniert hat, ist mehr Transparenz. Das hat eher zu einem Vergleichswettbewerb geführt und die Gehälter nach oben getrieben. Auch die Abstimmungen der Aktionäre über Vergütungen ("Say on Pay“) haben nicht die gewünschten Effekte erzielt; teilweise aufgrund des Einflusses kurzfristig orientierter, oft amerikanischer Investoren. Eine alternative Idee wäre, Steuervorteile für verantwortungsvolle und nachhaltige Unternehmen zu gewähren, die ihre Löhne freiwillig in einem angemessenen Rahmen halten.

Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach Bescheidenheit in der Führungsebene für den langfristigen Unternehmenserfolg? Lassen Sie uns zwei Beispiele betrachten: Warren Buffett, einer der reichsten Menschen der Welt, erhielt im Jahr 2023 ein bescheidenes Gehalt von 100.000 US-Dollar an der Spitze eines Milliarden-Konzerns. Davon zahlte er noch die Hälfte zurück. Buffett möchte den Aktionären damit seine Umsicht und Genügsamkeit signalisieren. Im Gegensatz dazu fuhr René Benko, einstiger europäischer Immobilien-Tycoon, durch seine Ausschweifungen und seinen üppigen Lebensstil sich und sein Unternehmen gegen die Wand. Wie bewerten Sie diese konträren Ansätze im Hinblick auf nachhaltigen Unternehmenserfolg?

Zunächst muss man zwischen Unternehmern und angestellten CEOs unterscheiden. Unternehmer, die ein Unternehmen aufgebaut haben, hängen oft stärker an diesem und versuchen, es voranzubringen.

Es gibt eine Forschungsrichtung namens Humble Leadership, welche die Bedeutung von Realitätssinn und Bescheidenheit untersucht. Wenn Führungskräfte nur noch darauf aus sind, sich selbst zu inszenieren und nicht mehr zuhören, verlieren sie oft die Bodenhaftung und übersehen wichtige Probleme. Im Fall von René Benko sehe ich eher ein gesellschaftliches Problem: Wir lassen uns zu leicht von angeberischem Verhalten beeindrucken und verführen. Wir sollten kritischer sein und solche Verhaltensweisen hinterfragen.

Es ist schwer zu sagen, ob solche Inszenierungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen haben. Hochstapler gab es schon immer. Vielleicht sind wir heute schneller verführbar, weil wir selbst dem Konsum einen hohen Wert beimessen. Gesellschaftliche Normen wie Bescheidenheit haben möglicherweise an Bedeutung verloren.

Letztendlich sollten wir alle kritischer denken und uns nicht so leicht von Äußerlichkeiten blenden lassen.

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