LEADERSNET: Herr Dr. Bernt, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für dieses Interview nehmen. Die Wohnungs- und Baukrise ist derzeit ein zentrales Thema in Deutschland. Wie würden Sie die aktuelle Situation beschreiben?
Dr. Bernt: Wir haben tatsächlich, wenn man über Wohnungskrise redet, in Deutschland ein Mengenproblem und ein Preisproblem. Das Mengenproblem besteht darin, dass wir weniger Angebot als Nachfrage haben. Wir haben weniger Wohnungen, als gebraucht werden. Da kursieren aber immer recht unterschiedliche Zahlen. Also mal wird von 700.000 fehlenden Wohnungen ausgegangen, mal von einer Million – genau weiß das keiner. Was aber sicher ist, ist, dass dieses Mengenproblem auch räumlich recht ungleich verteilt ist. Wir haben einen enormen Bevölkerungszuwachs, vor allem in den Großstädten und in den Universitätsstädten. Und dem gegenüber stehen natürlich strukturschwache Räume, wo es zum Teil auch noch Wohnungsleerstand gibt.
Das ist das eine. Das zweite ist aber ein Preisproblem. Das besteht darin, dass wir in den letzten Jahren einen enormen Mietanstieg hatten. Im Durchschnitt liegt die Mietbelastung brutto kalt in Deutschland bei fast 28 % des Einkommens. Gleichzeitig ist es aber so, dass die Mietbelastung vor allem bei einkommensschwachen Haushalten und bei Leuten, die neu auf den Markt kommen, in den Großstädten noch mal deutlich darüber liegt. Das heißt also, wenn Sie in einer Stadt wie Hamburg oder Berlin oder München eine Wohnung suchen, dann können Sie davon ausgehen, dass sie ungefähr 1/3 oder mehr Ihres Einkommens dafür bezahlen. Das ist natürlich ein Problem, weil das einen hohen Verdrängungsdruck für die Bestandsmiete in Gang setzt, da jeder Eigentümer, der jemand mit einem alten Mietvertrag hat, anstatt jemand, der jetzt die Wohnung neu anmietet, im Prinzip pro Monat 7 € pro Quadratmeter verliert.
LEADERSNET: Welche Hauptfaktoren sehen Sie als Ursache für die derzeitige Wohnungs- und Baukrise?
Dr. Bernt: Vor allem ist es in den letzten Jahrzehnten zu einem deutlichen Bevölkerungswachstum gekommen. Und das ist normalerweise nicht mit einer Ausweitung des Angebotes in demselben Maße einhergegangen. Die Bevölkerung ist hochgegangen, und das Wohnungsangebot ist nur unzureichend ausgeweitet worden. In solch einer Situation können Vermieter leichter höhere Preise durchsetzen. Gleichzeitig ist es so, dass der Staat sich in den letzten Jahrzehnten in Deutschland sukzessive aus der Wohnungsversorgung zurückgezogen hat. Also Deutschland hatte vor der Wiedervereinigung im Jahr 1987 noch 4 Millionen Sozialwohnungen, jetzt sind wir auf etwa 1 Million runter. 1987 kamen in der alten Bundesrepublik ungefähr drei Mieterhaushalte auf eine Sozialwohnung. Heute sind 21 Mieterhaushalte auf eine Sozialwohnung. Das hat die Krise, vor allem was die Preise betrifft, enorm verschärft.
Ein dritter Faktor ist, dass wir in den letzten Jahrzehnten einen deutlichen Wandel der Vermieterstruktur erlebt haben, bei dem deutlich verwertungsorientiertere Unternehmen größere Bestände erworben haben. Diese Unternehmen nutzen einfach alle Mietsteigerungsspielräume, bewirtschaften ihre Bestände anders und sind deutlich gewinnorientiert. Nur eine Zahl: Der größte Vermieter in Berlin ist mittlerweile ein börsennotiertes Wohnungsunternehmen. Für dieses Wohnungsunternehmen steht natürlich der Shareholder Value viel stärker im Vordergrund als die langfristige, bezahlbare Bewirtschaftung der Bestände.
LEADERSNET: Inwiefern hat die Bevölkerungsentwicklung zur Verschärfung dieser Krise beigetragen? Inwiefern tragen dazu die Migrations- und Flüchtlingsströme bei?
Dr. Bernt: Ja, selbstverständlich, wenn ich die gleiche Zahl von Wohnungen habe und mehr Leute, die sich darauf bewerben, dann steigen die Preise. Das ist sozusagen das "Einmaleins von Ökonomie". Wir haben jedoch nicht nur mehr Geflüchtete und Migranten in den großen Städten, sondern insgesamt hat es ein Zuzug in sogenannte "Schwarmstädte" gegeben, da Menschen aus der Fläche rausziehen in die Städte, und da sind ebenso hochqualifizierte Personen darunter zu finden. Das hat dazu geführt, dass es mittlerweile einen Nachfrageüberhang gibt, der unmittelbar durchschlagen konnte, da es weniger Regulierung auf dem Wohnungsmarkt gibt und weniger Zugriff des Staates auf leistbare Bestände.
LEADERSNET: Welche Lösungsansätze sehen Sie, um die Wohnungs- und Baukrise zu bewältigen? Könnten alternative Bauprojekte wie serielles Bauen eine Lösung sein?
Dr. Bernt: Wahrscheinlich. Sicher ist, dass die Krise sich nicht allein durch Neubau lösen lässt, da wir auch deutlich steigende Mieten im Bestand haben, selbst bei bestehenden Mietverträgen. Und es wird kaum möglich sein, Neubau in so großen Mengen auf den Markt zu bringen, dass dadurch ein nennenswerter Druck auf die Mietpreise im Bestand stattfinden würde. Wenn wir das machen würden, müssten wir uns wirklich in den Leerstand "reinbauen". Das wäre finanziell, infrastrukturell und ökologisch überhaupt nicht wünschenswert. Das einzige Beispiel, das mir in Deutschland bekannt ist, wo durch Neubau Mietpreise auf dem Markt insgesamt gesenkt worden sind, war damals in den 1990 und 2000 Jahren. Zu dieser Zeit hat man Neubau massiv gefördert. Diese Maßnahmen haben dazu geführt, dass wir am Ende 1 Millionen leer stehende Wohnungen hatten. Das ist, glaube ich, keine Lösung.
Deswegen brauchen wir vor allem einen Systemwechsel. Wir brauchen mehr Non-Profit auf dem Markt und mehr gemeinwohlorientierte Träger. Bis jetzt haben wir eine Mietpreisbremse in Deutschland, die nach allen Studien, die es darüber gibt, überhaupt nicht bremst. Wir haben massive Umgehungstatbestände, wo Mieter in Berlin wieder die Hälfte der Wohnung, teilmöbliert anbieten. Und dort reden wir über Mieten nicht von 7 €, nicht von 14 €, sondern von deutlich über 20 €.
LEADERSNET: Ist der Mangel an Bauland ein wesentlicher Faktor für die Wohnungs- und Baukrise? Inwieweit sind spekulative Immobilieninvestitionen ein Problem?
Dr. Bernt: In der Tat ist das ein großes Problem. Ich nenne auch hier wieder einfach nur eine Zahl: In Berlin sind von 2013 bis 2022, also innerhalb eines Jahrzehnts, ungefähr 180 Milliarden € in den Grundstückshandel geflossen. In derselben Zeit war der Umsatz für Baufertigstellung bei 28,4 Milliarden €. Das heißt also, das Sechsfache an Geld ist in den Handel mit bestehenden Grundstücken geflossen. Wenn dieses Geld in den Bau gegangen wäre, wären wir längst aus der Krise raus. Wenn sie in sozialen Wohnungsbau gegangen wäre, wäre es noch besser gewesen. Was wir sehen, ist, dass sehr viel anlagesuchendes Kapital in den Wohnungsmarkt strömt und dort Rendite aus Mietsteigerungen im Bestand ziehen kann. Das hat die Krise enorm verschärft. Wir müssten tatsächlich viel stärker in die Bodenpolitik einsteigen, Bodenbevorratung betreiben, Grundstückshandel erschweren, "Quer-Deals" schwieriger machen und auf der anderen Seite dafür sorgen, dass diese Grundstücke tatsächlich an gemeinwohlorientierte Träger gehen können.
LEADERSNET: Es gibt sehr viele unterschiedliche Systeme wie sozialer Wohnungsbau betrieben wird. Was kann Deutschland lernen? In Wien hat man den Gemeindewohnungsbau in den 1920er schon angefangen und nichts verändert. Das scheint dort zu funktionieren. Man hat auch weniger sozial räumliche Spaltung dort.
Dr. Bernt: Wir gucken aus Berlin immer sehr neidisch auf Wien. Deutschland hat tatsächlich viele Fehler gemacht. Auf der einen Seite haben wir in Deutschland in den 1990er und 2000er Jahren massiv öffentliche Wohnungen verkauft, und das sind die Wohnungen, die heute bei börsennotierten Unternehmen wie Vonovia oder Grand City Properties oder Akelius gelandet sind – bei Vermietern, die jede Mietsteigerungsmöglichkeit nutzen.
Zum Zweiten haben wir soziale Wohnraumförderung falsch betrieben. Ein österreichischer Wohnungsforscher hat das deutsche System als Investitionsförderung mit sozialer Zwischennutzung bezeichnet. Also anders als die Wiener haben wir Geld nicht in Gemeindewohnungsbau gesteckt, sondern wir haben im Prinzip ein System, in dem jeder Investor der Förderung aus dem Sozialwohnungsbau kriegen kann. Im Gegenzug verpflichtet er sich, für 30, 40 Jahre, je nach Bindungsdauer und nach Programm dazu, Sozialmieten anzubieten und Belegungsrechte an die öffentliche Hand abzugeben. Wenn diese 30, 40 Jahre vorbei sind, verpufft das und läuft aus und dann kommen die Wohnungen wieder auf den freien Markt zurück. Das Ganze ist also ein System, was nicht nachhaltig ist. Wir schießen immer wieder neues Geld in Wohnungen rein, deren Bindung nach einer Zeit ausläuft. Deswegen denke ich, müssen wir in Deutschland einen Systemwechsel bewerkstelligen, der in die Richtung geht, wie das, was man in Wien schon sehr lange macht.
LEADERSNET: Die Regierung hat ihr Versprechen von jährlich 400.000 Wohnungen weder 2022, 2023 nicht eingehalten und wird das auch 2024 wohl nicht erreichen. Was hindert die Wirtschaft am Bau schneller, und günstiger Wohnungen?
Dr. Bernt: Fairerweise muss man sagen, dass das Versprechen zu einem Zeitpunkt abgegeben worden ist, wo die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen andere waren. Seit der russischen Invasion in der Ukraine, sind die Energiepreise massiv gestiegen. Wir haben ein völlig anderes Zinsniveau als noch vor zwei oder drei Jahren. Die Löhne sind gestiegen und das hat natürlich insgesamt auch Bauen erheblich verteuert. Gerade der Zinsanstieg ist für die Immobilienwirtschaft natürlich ein "Genickbrecher". Das kann man gar nicht anders sagen. Insofern muss man fairerweise sagen, dass dieses Versprechen von jährlich 400.000 Wohnungen aus einer anderen Zeit stammt. Gleichzeitig wurde schon vorher zu wenig gebaut. Das Problem derzeit ist, dass man hohe Renditen eben auch ohne neu zu bauen und auch mit Mietsteigerungen aus dem Bestand verdienen kann. Dadurch gibt es einfach zu wenig Anreize, dass sich Investoren die Mühe zu machen, neue Wohnungen zu bauen und attraktive und preiswerte Wohnungen anbieten.
LEADERSNET: Welche langfristigen Folgen erwarten Sie für den deutschen Wohnungsmarkt, wenn die Wohnungs- und Baukrise nicht angegangen wird?
Dr. Bernt: Es wird mit Sicherheit in den nächsten Jahren nicht besser werden. Was ich erwarte, sind auf jeden Fall noch höhere Wohnkosten. Ich würde erwarten, dass es noch weniger Fluktuation gibt. Mieter werden mit allen Mitteln versuchen, in der Wohnung zu bleiben, weil sie auf dem freien Markt, nichts bezahlbares mehr finden werden. Ein Beispiel aus meiner Erfahrung: Ich habe Nachbarn, die wohnen zu viert in zwei Zimmern, weil sie einfach keine vier Zimmer Wohnung bezahlen können. Ich habe gleichzeitig alte Omas, die wohnen alleine in einer 3-Zimmer Wohnung. Die würden auch gerne kleinere Wohnungen haben. Aber sie sagen sich, wenn sie jetzt eine 1-Zimmer Wohnung suchen, zahlen sie mehr als für eine drei Zimmer Wohnung. Das macht auch keinen Sinn. Das heißt, die ganze Mobilität, die der Wohnungsmarkt braucht, wird dadurch auch ausgebremst. Ich werde möglicherweise auch mehr Segregation vorfinden, in der einkommensschwache Schichten in schlechte Wohnungsbestände an den Rand gedrängt werden.
LEADERSNET: Welche Erfahrungen und Lösungsansätze gibt es aus anderen Ländern, die bei der Bewältigung der Krise hilfreich sein könnten?
Dr. Bernt: Wir haben in Europa sehr unterschiedliche Wohnungs- und Haussysteme. Dadurch ist es mit dem Export von Erfahrungen zum Teil schwierig. Dennoch denke ich, dass man sich hier und dort Dinge abgucken kann. Wien haben wir bereits angesprochen und ist, glaube ich, sehr gut für Deutschland adaptierbar. Es macht auch Sinn, nach Zürich in die Schweiz zu sehen, wo es ein sehr starkes Genossenschaftswesen gibt. Dänemark hat durch entsprechende Regulierungen ebenso leistbares Wohnen ermöglicht. Es macht Sinn, nach Singapur zu sehen und in viele andere Länder. Insofern kann es hilfreich und sinnvoll sein, in die Welt zu reisen und sich etwas anzusehen.
Ich denke, im Kern muss es darum gehen, wie wir in Deutschland tatsächlich wieder mehr gemeinwohlorientierte Träger in den Wohnungsmarkt bekommen. Wir haben in Deutschland eine ganze Latte an Erfahrungen mit kommunalen Wohnungsunternehmen, mit Genossenschaften, mit gemeinwohlorientierten Trägern und mit dem Mietshäuser-Syndikat. Das sind alles Maßnahmen, die nur auf lange Zeit greifen, um eine bessere Situation herbeizuführen.
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