Bye-bye Norm: Ein beeindruckender Lebenslauf ist kein Indikator mehr

Lydia Kothmeier, VP of Operations bei Storyblok, erklärt in ihrem Gastbeitrag, wie Unternehmen die echte Motivation der Bewerber:innen erkennen und wie sich im Recruiting transparent machen lässt, dass man Quereinsteiger:innen genauso aufnimmt wie alle anderen.

In einem schnell wachsenden Unternehmen müssen Veränderungen vorgenommen und neue Erfahrungen gemacht werden. Warum gilt das in den meisten Unternehmen nicht auch im Recruiting? Die Motivation, etwas Neues zu schaffen, zu lernen und sich weiterzuentwickeln, trifft schließlich auch auf Bewerber:innen zu. Und sollte der persönliche Drive der Bewerber:innen nicht wichtiger sein als alle früheren Etappen und Erfahrungen? Woran erkennt man die echte Motivation der Bewerber:innen? Wie lässt sich im Recruiting transparent machen, dass man Quereinsteiger:innen genauso aufnimmt wie alle anderen? Und welche Kriterien gibt es dann noch, wenn Bildung und Erfahrungen eine kleinere Rolle spielen?

Alleine vor dem Hintergrund des allgegenwärtigen Fachkräftemangels in nahezu allen Branchen nimmt das Recruiting eine völlig neue, maßgebliche Rolle in Unternehmen ein. Zwar weisen Studien, wie bspw. vom Institut für Deutsche Wirtschaft, einen leichten Rückgang in einzelnen Berufsgruppen auf, doch insgesamt erreichte die Anzahl an fehlenden Fachkräften im Vorjahr ein Rekordhoch. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung, die immer mehr Unternehmen machen: Trotz exzellenter Bewerbungsunterlagen und scheinbar ausgezeichneter Qualifikationen stimmt die Chemie zwischen Mitarbeiter:innen und Unternehmen nicht, sodass man letztendlich doch wieder getrennte Wege geht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Es bedarf einer Transformation des Recruitings, die jedoch schon vor dem Zeitpunkt des ersten Bewerbungsgesprächs einsetzen sollte.

Kompetenzen und Werte definieren und priorisieren

Eine Stellenausschreibung und somit auch die Festlegung spezifischer Anforderungen an eine Position ist der erste Schritt für Unternehmen, potenzielle Mitarbeiter:innen anzusprechen. Im Recruiting-Prozess sollten sich Unternehmen bereits an dieser Stelle trauen, Veränderungen zu ihrer bisherigen Vorgehensweise vorzunehmen.

Wichtig ist vor allem, genauestens zu definieren, welche Kompetenzen, Werte, Einstellungen und Erfahrungen eine Person mitbringen muss. Unternehmen sollten hierbei differenzieren. Auf der einen Seite steht die benötigte Berufserfahrung, die für die Position von Beginn an unverzichtbar ist. Auf der anderen Seite stehen die Faktoren Einstellung, Werthaltung und Basiswissen, die es Bewerber:innen ermöglichen, ihre fehlende Berufserfahrung noch später im Beruf auszugleichen. Durch diese neue Priorisierung erhöhen Unternehmen ihre Chancen, geeignete Mitarbeiter:innen zu finden.

Qualifikationen finden sich nicht nur im Lebenslauf

Im weiteren Verlauf des Recruiting-Prozesses ist es wichtig, zu prüfen, ob das notwendige Wissen tatsächlich vorhanden ist. Damit Unternehmen erkennen, ob eine Person die Erwartungen erfüllt, muss ebendieses Wissen transparent besprochen und diskutiert werden. Dabei sollten Arbeitgeber:innen nicht außer Acht lassen, dass gewisse Kompetenzen auch außerhalb des klassischen Berufslebens in anderen Bereichen erlangt werden können.

Ein Beispiel: Eine Firma sucht eine:n Content Manager:in und definiert Kreativität und Wortgewandtheit als Kernkompetenzen für den Job. Anstatt im Curriculum Vitae nach Erfahrungen in identischen Positionen zu suchen, lohnt sich ein Blick hinter die Berufspraxis: Denn auch durch Hobbys – in dem Fall beispielsweise Instrumente spielen und Poetry Slam – können Bewerber:innen Kompetenzen erlangen.

Wann Berufserfahrung nebensächlich wird

Neben fachlichem Wissen, technischen Fähigkeiten und Erfahrungen beruflicher oder privater Natur – die allesamt zweifellos von großer Bedeutung sind, um erfolgreich in einem Beruf zu sein – gibt es zwei weitere entscheidende Faktoren, die oft übersehen werden: Die persönlichen Werte und grundlegende Mentalität einer Person. Ist Lernbereitschaft, Willenskraft, Eigeninitiative und Motivation sowie Neugierde vorhanden, verlieren Qualifikationen, die Bewerber:innen im Laufe der Zeit innerhalb des Unternehmens erlernen können, automatisch an Bedeutung. Denn sie bilden das Fundament, auf dem das Verhalten im Berufsleben aufgebaut ist – und unterscheiden durchschnittliche oftmals von außergewöhnlichen Mitarbeiter:innen.

Um zu identifizieren, ob jemand die genannten Eigenschaften hat und Werte vertritt, bieten sich einfache Fragen zu Beginn des Bewerbungsprozesses an: Was hat Sie dazu bewegt, sich auf diese Stelle zu bewerben? Was begeistert Sie an der Arbeit, die mit dieser Stelle verbunden ist? Welche Faktoren sind Ihnen wichtig, um gute Arbeit leisten zu können?

Die Spreu vom Weizen trennen

Für die praktische Umsetzung des Bewerbungsprozesses ist die Gliederung in einen mehrstufigen Prozess hilfreich. Im ersten Schritt sollten Talent Acquisition- oder People Manager:innen einen Culture Fit Check mit den Bewerber:innen durchführen. Damit lässt sich überprüfen, inwiefern eine Person in die vorhandene Unternehmenskultur passt, um ein harmonisches und produktives Arbeitsumfeld zu schaffen bzw. zu erhalten.

In einem nächsten Schritt gilt es zusätzlich, verantwortliche Manager:innen mit in das Bewerbungsverfahren einzubeziehen. Auf dieser Ebene erfolgt eine fachliche Beurteilung der Bewerber:innen entsprechend ihrer Erfahrung und Einstellung. Schließlich kann im letzten Schritt eine praktische Aufgabe dabei helfen, die richtige Person für die Besetzung einer Stelle zu identifizieren. Dabei stellt sich heraus, dass bessere Ergebnisse nicht zwangsläufig mit viel Berufserfahrung zusammenhängen: Denn vor allem Personen mit geringer Berufserfahrung weisen häufig Motivation und Lernbereitschaft auf, die im späteren Berufsleben entscheidend ist. Zudem können Unternehmen anhand dessen feststellen, wie potentielle Mitarbeitende mit einer schriftlichen Aufgabe umgehen und diese eigenständig lösen – was insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden Remote-first-Kultur in vielen Unternehmen zusätzlich an Bedeutung gewinnt.

Insgesamt erhalten Unternehmen mit dem Durchlaufen all dieser Schritte im Bewerbungsprozess wertvolle Informationen und einen guten Eindruck von ihren Bewerber:innen – was die Grundlage für ihre endgültige Entscheidung bilden sollte. Und obwohl sich, wie so oft, nicht mit hundertprozentiger Sicherheit vorhersagen lässt, ob es sich letztendlich um die richtige Entscheidung handelt, gilt ein altbewährtes Sprichwort auch für Veränderungen im Recruiting: Wer nicht mit der Zeit geht, der geht mit der Zeit.

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