Angesichts der Tatsache, dass der Nutzen des BIP als Maßstab für das Wohlergehen zunehmend in Frage gestellt wird, vertritt Dr. Lucía Macchia die Auffassung, dass das Schmerzempfinden der Menschen und seine Auswirkungen auf ihr Leben besser gemessen und in die politische Entscheidungsfindung einbezogen werden müssen. Macchia ist Verhaltenswissenschaftlerin und Dozentin für Psychologie (Bildung und Forschung) an der City, University of London. In ihrem Kommentar (in englischer Sprache – Anm. d. Red.) in Nature Human Behaviour vertritt sie die Auffassung, dass auch Schmerzempfinden in die Gleichung aufgenommen werden muss. LEADERSNET präsentiert einen Auszug aus ihrem Kommentar:
Das Wohlergehen der Bürger und der gesellschaftliche Fortschritt sind wichtige Ziele der politischen Entscheidungsfindung. Traditionell galt das Nationaleinkommen als Schlüsselmaßstab für die Bewertung dieser Ziele. Wohlstand im Sinne von nationalem Reichtum lässt sich jedoch nicht unbedingt auf andere Maße des Wohlbefindens übertragen. In den letzten Jahrzehnten haben Forscher nachgewiesen, dass ein höheres Nationaleinkommen langfristig nicht mit einer größeren Lebenszufriedenheit der Bürger einhergeht.
Infolgedessen wurde der Wert des BIP (Bruttoinlandsprodukt) als Indikator für den gesellschaftlichen Fortschritt in Frage gestellt, und die Regierungen haben begonnen, eine breitere Palette von Messgrößen für das Wohlergehen in den politischen Diskurs aufzunehmen, z. B. Messgrößen aus dem Rahmen der Ziele für nachhaltige Entwicklung und psychologische Variablen wie Glück, Lebenszufriedenheit und seelisches Gleichgewicht.
Schmerz ist eine der häufigsten menschlichen Erfahrungen. Die meisten Menschen denken bei Schmerzen an ein rein körperliches Phänomen. Es gibt jedoch immer mehr Belege dafür, dass Schmerzen Auswirkungen auf unser Denken und Fühlen haben und dass unsere Umgebung das Ausmaß der Schmerzen beeinflussen kann, die wir erleben.
Es gibt viele Gründe, Schmerzen gezielt zu messen. Schmerzen stehen in engem Zusammenhang mit Aspekten des psychischen Wohlbefindens wie Lebenszufriedenheit und finanziellem Stress sowie mit Verhaltensweisen wie Drogen- und Alkoholmissbrauch und Selbstmord.
In Bezug auf die relativen Auswirkungen hebt Dr. Macchia hervor, dass die Tendenz bei der Schmerzerfahrung weltweit von 23 Prozent im Jahr 2009 auf 32 Prozent im Jahr 2021 ansteigt und dass Schmerzen für die Volkswirtschaften unglaublich kostspielig sind. So geben die USA beispielsweise jährlich mehr als 600 Milliarden Dollar für die Behandlung von Schmerzen aus, eine Zahl, die die vergleichbaren Kosten von Herzkrankheiten und Diabetes für das Land übersteigt.
Schmerzen wurden traditionell als ein rein medizinisches Problem betrachtet. Neue wissenschaftliche Arbeiten haben gezeigt, dass sozioökonomische, psychosoziale und verhaltensbezogene Faktoren eine Schlüsselrolle bei Schmerzen spielen. Es wurde unter anderem festgestellt, dass Menschen mit höherem Bildungsniveau über geringere Schmerzen berichteten als Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau, und dass sich die Schmerzlücke zwischen Menschen mit höherem und niedrigerem Bildungsniveau in den USA im Laufe der Zeit vergrößert hat. Auch die Beschäftigung steht in Zusammenhang mit Schmerzen. Im Allgemeinen berichten Arbeitslose über stärkere Schmerzen als Erwerbstätige. In Übereinstimmung mit diesen Erkenntnissen ergab eine Querschnittsstudie, dass Menschen mit einem niedrigeren Einkommen über stärkere Schmerzen berichteten als Menschen mit einem höheren Einkommen.
In jüngster Zeit häufen sich die Belege dafür, dass soziale Stressfaktoren eng mit Schmerzen verbunden sind. So zeigten Dr. Macchia und ihre Kollegen anhand einer weltweiten Stichprobe, dass die Schmerzen während eines Wirtschaftsbooms geringer und während einer wirtschaftlichen Rezession größer waren. Diese Ergebnisse blieben auch nach Kontrolle des Beschäftigungsstatus der betroffenen Menschen bestehen, was darauf hindeutet, dass allgemeine Arbeitslosigkeit auch bei Erwerbstätigen Auswirkungen auf die Schmerzen haben kann. Die Autoren sind der Meinung, dass der finanzielle Stress, den Menschen während eines wirtschaftlichen Abschwungs erleiden können, körperliche Auswirkungen habe. In Übereinstimmung mit dieser Arbeit wurde experimentell nachgewiesen, dass wirtschaftliche Unsicherheit zu finanziellem Stress führt, der Schmerzen auslöst.
Die Frage, wie Schmerzen gemessen werden können, verdient Aufmerksamkeit. In Anlehnung an Physiker und Wissenschaftler kann der Schmerz mit einer numerischen Skala gemessen werden. Beispielsweise könnte man die Menschen fragen: "Wie stark sind Ihre körperlichen Schmerzen im Moment?" Die Antwort könnte zwischen 0 (keine Schmerzen) und 10 (schlimmste vorstellbare Schmerzen) liegen. Diese kurze Frage wird den Regierungen helfen, Schmerzen auf effiziente und kostengünstige Weise zu überwachen.
Die Gültigkeit dieses Ansatzes und sein Wert für die Wissenschaft wurden in einer kürzlich durchgeführten Untersuchung nachgewiesen. Darüber hinaus kann diese Schmerzskala, wenn sie im Längsschnitt gemessen wird, wertvolle Informationen über die Veränderungen des Schmerzes im Laufe der Zeit liefern. Messungen des psychologischen Wohlbefindens sind für die Bewertung des gesellschaftlichen Wohlergehens äußerst wichtig, da sie die Einschränkungen von Standardstatistiken wie dem BIP überwinden. Dennoch haben Wissenschaftler aus allen Bereichen der Sozialwissenschaften in letzter Zeit die Notwendigkeit alternativer Ansätze zur Messung des Wohlbefindens hervorgehoben. Die Einbeziehung von Schmerz als Wohlstandsindikator kann dazu beitragen, die Gestaltung und Bewertung öffentlicher Maßnahmen zur Verbesserung des Wohlergehens der Bürger voranzubringen.
www.city.ac.uk
Kommentare auf LEADERSNET geben stets ausschließlich die Meinung des jeweiligen Autors bzw. der jeweiligen Autorin wieder, nicht die der gesamten Redaktion. Im Sinne der Pluralität versuchen wir unterschiedlichen Standpunkten Raum zu geben – nur so kann eine konstruktive Diskussion entstehen. Kommentare können einseitig, polemisch und bissig sein, sie erheben jedoch nicht den Anspruch auf Objektivität.
Kommentar schreiben