Interview mit dem Vermögensforscher und Soziologen
Prof. Dr. Thomas Druyen: "Das Versäumen gehört zu unserem Leben wie das Atmen"

Druyen verrät, welche soziale Schere uns wirklich bedrohlich werden könnte und inwiefern Menschen der technologischen Entwicklung hinterher hinken. Der Soziologe schildert, was er aus zukunftspsychologischer Sicht vom bedingungslosen Grundeinkommen hält oder welche Eigenschaften fast alle selbstgemachten Milliardäre teilen.

Prof. Dr. Thomas Druyen ist einer der renommiertesten Vermögensforscher Europas und hat durch seine Forschungsarbeiten und Publikationen maßgeblich zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Vermögenskultur beigetragen. Er gilt als angesehener Sozialwissenschaftler und absolvierte sein interdisziplinäres Studium der Soziologie, Rechtswissenschaften und Publizistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo er auch promovierte.

Gegenwärtig bekleidet er den Lehrstuhl für Vergleichende Vermögenskultur und Vermögenspsychologie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Dort leitet er zudem das Institut für Zukunftspsychologie, welches sich mit den psychologischen und neuronalen Bedingungen sowie den Begleiterscheinungen der Zukunftsgestaltung, der Digitalisierung und des demografischen Wandels beschäftigt. Bereits 1990 promovierte er zum Dr. phil., ehe er 2004 seine Habilitation erlangte. Seine Habilitationsschrift trug den Titel "Vermögenskultur und Lebensführung: Eine soziologische Analyse der Einstellungen und Verhaltensweisen im Umgang mit Geld und Vermögen“.

Erst am vergangenen Wochenende haben wir uns an dieser Stelle mit Erkenntnissen zu Reichtum und den Menschen dahinter befasst, die einem Handelsblatt-Interview mit Druysen zu entnehmen waren. Tatsächlich hatten wir schon einige Tage vorher die Gelegenheit, ihn selbst in Wien zum Gespräch zu treffen - nun freuen wir uns, das Ergebnis präsentieren zu dürfen.

Leadersnet: Herr Professor, die wichtigsten Dinge wie Liebe, Gesundheit und Glück kann man ohnehin nicht kaufen. Warum viel Zeit für das Anhäufen von Vermögen aufwenden, wenn keine Zukunft gutzumachen vermag, was man in der Gegenwart versäumt?

Druyen: Weil wir diese grandiose und geistige Unabhängigkeit nicht besitzen. So souverän kann niemand auf das Leben blicken. Das bleibt vorerst ein frommer Wunsch. Wir alle werden hineingeworfen in ein Meer aus Optionen, Ungerechtigkeiten und Zufällen und wer wo auftaucht, bestimmt weitgehend schon, welches konkrete Leben uns auferlegt wird. In diesem Sinne sind wir alle, ob wir wollen oder nicht, Gestalterinnen und Gestalter. Aber es macht einen fundamentalen Unterschied, ob ich in einem Kriegsgebiet, in einem Slum, in prekären oder wohlständigen Verhältnissen oder als Milliardärskind und so weiter geboren bin.

Gerade hat ein siebzehnjähriges, in Deutschland lebendes Mädchen in Paris Gold gewonnen. Vor fünf Jahren ist sie allein aus Sibirien geflohen. Was für eine unfassbare Lebenskraft in vielfacher Hinsicht. Gelingen konnte dies nur mit einer grandiosen Selbstüberwindung, mit außergewöhnlichem Mut, mit ungeheurer Disziplin und einer seelischen Hochbegabung. Hätte sie allein auf Liebe, Gesundheit und Glück gehofft oder gewartet, wäre sie nicht vom Fleck gekommen.

Diese drei zentralen Werte gehören zwar zum höchsten Gut der Menschheit, aber auch sie fallen nicht vom Himmel, sondern müssen erwirkt, erkämpft und immer wieder bewahrt werden. Das Anhäufen von Training, von Bildung, von kreativem und unternehmerischem Schaffen, von wissenschaftlicher oder technischer Leistung, ob groß oder klein, schafft erst die Grundlage, um selbstgewiss und selbstbewusst mit Zeit umzugehen. Das Versäumen gehört zu unserem Leben wie das Atmen, daher sollte man unentwegt versuchen, das Vorhandene und Schwierige zu nutzen.

Leadersnet: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich auch mit Vermögenspsychologie. Welche psychologischen Faktoren beeinflussen unseren Umgang mit Geld und Vermögen am stärksten?

Druyen: Grundsätzlich stellen wir uns seit über zwanzig Jahren die Frage: Was macht großer Reichtum mit der Psyche und welche Selbst- und Fremdwahrnehmung entstehen daraus? In tausenden Interviews weltweit wurde sehr deutlich, dass es ein alle verbindendes Reichtums-Mindset nicht gibt. Sinn und Zweck, Überzeugung und die emotionale Wirkung von exorbitantem Reichtum sind immer abhängig von der Kultur, dem politischen System, der Familie, der Sozialisation, der Bildung, der Branche, der Persönlichkeit und vielen weiteren Faktoren. Einen Milliardär in Dakar oder in Zürich kann man kaum vergleichen. 

Ebenso spielt die Reichtumsdimension eine gravierende Rolle. Zwischen Vermögen von fünf, 50, 500 Millionen und 5 oder 50 Milliarden liegen Lichtjahre der Gestaltungskraft, der Unabhängigkeit, des Einflusses und der damit verbundenen Selbstwahrnehmung. Die Vermögenspsychologie zeigt insofern sehr deutlich: Die Superreichen leben in einem eigenen Orbit, der kulturell vollkommen unterschiedlich sein kann. Eine Milliardärshochzeit in Indien oder in Norwegen sind unvergleichbar.

Demzufolge sind auch die psychischen und sozialen Faktoren unterschiedlich. Aber zwei Merkmale scheinen dennoch global vorhanden zu sein: Erstens die Verlustangst, die mit dem steigenden Vermögen durchaus größer wird. Zweitens bedeutet großer Reichtum in jedem Fall eine Herausforderung für den Charakter. In vielen Fällen werden die Durchdringungskraft des Geldes immer mehr mit der eigenen Person gleichgesetzt, und das befördert Arroganz, Abgehobenheit, Empathieverlust bis hin zum Größenwahn.

Leadersnet: Eine neue Klasse von Wohlhabenden sind die exorbitant hoch bezahlten Manager. Erstmals in der Geschichte erreichen ihre Gehälter ein Niveau, das sie selbst zu den Reichen zählen lässt. Ein prominentes Beispiel ist Elon Musk, dem ein Gehaltspaket von 50 Milliarden Dollar zugesprochen wurde. In vielen Fällen verdienen Manager das Hundertfache oder mehr des Durchschnittsgehalts eines Angestellten. Doch stellt sich die Frage: Ist diese Entwicklung gesund?

Druyen: Bei der Beantwortung einer solchen Frage warne ich vor Generalisierung und Unschärfe. Hier spielen so viele systemische, kulturelle, politische, ideologische und weltanschauliche Aspekte eine Rolle, dass die Antworten niemals objektiv sind, sondern lediglich Spiegelbild der eigenen Einstellung. Schon das Phänomen Elon Musk eignet sich für tausende Doktorarbeiten in aller Welt. Er ist kein Manager. Er ist Eigentümer, Anteilseigner, Supermilliardär, aber vor allem ein radikaler Schöpfer, der Innovationen weitertreibt als andere. Das uns zuweilen sein schwer erträgliches Auftreten irritiert, ist eine ganz andere Frage. Unter den 100 reichsten Menschen sind keine Manager. Wenige mögen es mal gewesen sein. Wir müssen unterscheiden zwischen denen auf eigenes Risiko Unternehmenden und den zwar exorbitant hoch bezahlten, aber dennoch angestellten Managern. Das sind zwei völlig verschiedene Welten.  

Leadersnet: Betrachtet man den geschichtlichen Verlauf der Vermögensverteilung, so ist diese so konzentriert wie in den 1920er und 1930er Jahren. Zeiten, in welchen es zu enormen politischen Spaltungen und Ausschlägen im politischen Spektrum kam. Ähnliche Tendenzen sind in unserer gegenwärtigen Welt zu beobachten. Was braucht es, um dem Einhalt zu gebieten?

Druyen: Sie stellen tolle Fragen, aber sie sind sehr komplex. Insofern kann ich leider nur Aspekte herausgreifen. Natürlich spielt die Vermögensverteilung eine zentrale Rolle bei der emotionalen Einschätzung einer Bevölkerung, ob es gerecht zugeht oder nicht. Aber steckt darin das originäre Spaltungspotenzial? Oder entlasten wir mit diesem Gedanken alle politischen und institutionellen Mandatsträger, die eine Verpflichtung zu gesamtgesellschaftlichem Wirken nur interessenspezifisch wahrnehmen?

Aus vermögenspsychologischer Sicht gibt es einen relativ klar zu erkennenden Horizont. Die Zahl der Superreichen und Reichen wächst seit vielen Jahrzehnten mit krisenbedingten Dellen unausweichlich. Gab es zu Jahrtausendbeginn circa 500 Milliardäre, gibt es nun schon mehr als 3000. Allein über die Herkunft und Stimmigkeit dieser Zahlen könnte ich endlos sprechen.

Einerseits wächst die Menschheit weiterhin, also auch die Märkte - anderseits gibt es immer wieder Vermögenswellen wie die Industrialisierung, die Digitalisierung und die Künstliche Intelligenz, mit der immer eine Reichtumsbeschleunigung verbunden ist. Insofern gibt es heute mehr Geld, mehr Reiche und mehr Milliardäre als jemals zuvor. Tendenz steigend; es sei denn, die selbstgemachten Katastrophen eskalieren weiter. 

Prof. Dr. Thomas Druyen, 67 Jahre alt, ist Direktor des Institutes für Zukunftspsychologie und Zukunftsmanagement an der Sigmund Freud Privat-Universität in Wien und Präsident der opta data Zukunfts-Stiftung (Bild: Linda Kaiser)

Was braucht es, um dem Einhalt zu gebieten? Schauen Sie in mein letztes Buch: Aus der Zukunft lernen. Kurz gesagt: Mit der Künstlichen Intelligenz hat die Menschheit ein Werkzeug geschaffen, um mittelfristig fast alle rationalen Fragen objektiv zu beantworten. Selbst eine faire Besteuerung und das Schließen aller Schlupflöcher wird möglich werden. Aber ist das gewollt? In den letzten 200 Jahren ist die technologische Entwicklung exponentiell gewachsen und das wird sich fortsetzen. Unser humanes Fassungsvermögen, unsere moralische Kompetenz und unsere Empathiebereitschaft sind jedoch nicht so stark gewachsen. Wir hinken ethisch und kognitiv dramatisch hinterher. Daran gilt es, ultimativ zu arbeiten.  

Leadersnet: In den letzten Jahren ist die Schere zwischen arm und reich in vielen Ländern weiter auseinandergegangen. Welche gesellschaftlichen Folgen hat diese Entwicklung aus Ihrer Sicht?

Druyen: Die Beseitigung von Armut und die Ermöglichung von Existenzführung ist das globale Nadelöhr einer gelingenden Zukunft. Diese Lösungen entziehen auch vielen religiösen, ideologischen und antidemokratischen Systemen den Nährboden. Der Stellenwert dieses Themas in der wettbewerbsorientierten Realität dokumentiert eindeutig: Propagandistisch steht das Ziel ganz oben, wirklichkeitsbildend ganz unten.

Nun zu meiner wissenschaftlichen Einschätzung: Über den strukturellen, existentiellen und humanspezifischen Unterschied zwischen arm und reich muss inter- und intrakulturell eine gemeinsame Wahrnehmung erarbeitet werden. Solange dieser Mythos nicht faktisch und objektiv analysiert ist, bleibt er eine bloße Moralkeule. Zur Lösung habe ich etwas gesagt.

Aus unserer Sicht weitet sich die bedrohliche Schere aber immer mehr zwischen Mittelschicht und Superreichtum. Wenn diejenigen, die das Rückgrat der Gesellschaft bilden, keine Perspektiven und keine Zukunft sehen, dann beginnt eine schleichende Zerrüttung. Und das ist keine Disruption, sondern ein Zusammenbruch. Die gesellschaftlichen Folgen von fleißigem, arbeitsplatzschaffendem, nutzenstiftendem, visionärem und verantwortlichem Superreichtum sind positiv. So habe ich auch das Feedback aller Milieus zu unserer Forschung immer wieder erlebt. Aber Größenwahnsinnige, Diktatoren, Kleptomanen und alle Formen krimineller oder steuerhinterziehender "Reichtumsegozentrik“ machen aus der Schere eine Stichwaffe und beleidigen den Strebsamen. 

Leadersnet: Als Leiter des Instituts für Zukunftspsychologie befassen Sie sich mit den Auswirkungen des demografischen Wandels. Welche Herausforderungen sehen Sie hier in Bezug auf die Vermögensverteilung zwischen den Generationen? Immer mehr junge Menschen müssen mit weniger Geld als die Generation vor ihr auskommen.

Druyen: Der demografische Wandel ist ein gutes Beispiel dafür, wie wenig wir aus der Zukunft lernen. Er ist seit über sechs Jahrzehnten bekannt und sein Einfluss auf die Generationenbelastung ebenso. Es ist also kein vorsätzlicher Effekt der unfairen Vermögensverteilung, sondern ein Resultat politischer Unaufrichtigkeit, individueller Verdrängung und gesellschaftlicher Ignoranz. Das Leben hat sich in den letzten 100 Jahren um 30 Jahre verlängert... und es geht so weiter.

Aber noch immer wird ein unhaltbarer Traum von einer vorzeitigen Rente suggeriert. Das ist unverantwortlich. Schon vor 50 Jahren war klar, dass wir länger arbeiten müssen. Wir können die jungen Generationen nur entlasten, wenn länger gewirkt wird und Steuern gezahlt werden. Die Generation der Babyboomer und Babyboomerinnen ist viel zu groß und die Nachkommenschaft viel zu klein, um es nur durch staatliche Zuwendungen kompensieren zu wollen. Das ist für viele eine brutale Nachricht, aber sie ist seit Jahrzehnten klar. Es macht folglich Sinn, über einen Superreichtumsfonds für junge Menschen nachzudenken.  

Leadersnet: Wie haben sich Ihre persönlichen Gespräche mit Milliardären auf Ihre Forschung und Ihr Verständnis von Vermögenskultur ausgewirkt?

Druyen: Es wäre arrogant zu sagen, dass ich froh bin, dass ich bei weitem nicht zu jener Gruppe gehöre, die ich erforsche. Aber mein höchstes Vermögen ist die Freiheit und die kognitive Unabhängigkeit; und das ist weitgehend unabhängig von materiellen Dimensionen und wird durch sie eher erschwert. Vermögenskultur üben diejenigen Superreichen aus, die in vielfacher Hinsicht die Welt voran- und weiterbringen. Sie gehören über den Verlauf der Geschichte auch zu den maßgeblichen Konstrukteuren unserer Zivilisation.

Wir sehen immer nur das Ergebnis, aber die Milliardäre - wenn sie keine Erben sind - haben eine Geschichte, die mit Obsession, Mut, Rückschlägen, Panik und Durchsetzungsvermögen gespickt ist. So hat sich eben mein Bild für eine ungeheure Leistungsbereitschaft geschärft, die der Menschheit nutzt. Davor habe ich höchsten Respekt. Es geht also weniger um die Milliardäre oder Multimillionäre, sondern ihre Nutzenstiftung. All diejenigen, die das instrumentalisieren, kriminalisieren oder lediglich egozentrieren, sind keine Vermögenden, sondern lediglich Geldmaschinen.

Leadersnet: Milliardäre aus vorhergehenden Generationen brauchten viel mehr Ressourcen, Material und Mitarbeiter, um ihre Vermögen aufzubauen. Das hat sich mit der Digitalisierung enorm geändert und die Umsätze pro Mitarbeiter sind exorbitant gestiegen. Wohlstand konnte so ein Stück weit demokratisiert werden, jedoch blieben auch viele Menschen auf der Strecke. Braucht es zukünftig so etwas wie ein bedingungsloses Grundeinkommen?

Druyen: Tatsächlich gibt es für junge Innovationsbegabte die Chance, mit einem neuen Technologie-Tool schnell reich zu werden. Das hat es vorher nie gegeben. Aber dies ist keine Option für die Mehrheit, daher bleibt die Sorge um Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen berechtigt. Insofern ist eine neue Einkommensquelle für diejenigen, die es benötigen, unausweichlich.

Aus zukunftspsychologischer Perspektive eignet sich allerdings eine Zahlung, die bedingungslos zur Verfügung gestellt wird, nicht. Selbst die bedingungslose Liebe ist in der Menschheitsgeschichte eine absolute Ausnahme. Die Notwendigkeit, dem eigenen Leben eine Gestalt zu geben, können wir nicht mit einem Freifahrtschein unterlaufen. Ein Grundeinkommen für all diejenigen, die es aus welchen vernünftigen Gründen auch immer brauchen, halte ich für zukunftsweisend. Es sollte allerdings mit einer machbaren Leistung verbunden sein.

Auch die Künstliche Intelligenz wird bei der Lösung dieses Themas eine Rolle spielen. Es geht um ein Modell zur Monetarisierung von Online-Inhalten, um Besucher für ihre Zeit und Aufmerksamkeit auf einer Webseite oder einer Plattform zu entlohnen. Das Ziel ist ein Gleichgewicht zwischen Wertschöpfung und - austausch. Also die Option, ein dynamisches Grundeinkommen zu realisieren, ist unverzichtbar - aber in Zeiten exponentieller Möglichkeiten sollten wir mehr Gestaltungsfantasie entwickeln.

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