Interview mit dem Direktor der REHACARE International
Hannes Niemann: "Die Rehabilitationstechnik erlebt derzeit eine Revolution"

| Bernhard Führer 
| 06.08.2024

Die REHACARE International, die führende Messe für Rehabilitation, Prävention, Integration und Pflege, findet vom 25. bis 28. September 2024 in Düsseldorf statt. Jährlich versammeln sich hier Fachleute und Interessierte aus Europa und Übersee, um die neuesten Entwicklungen in den Bereichen Mobilität, barrierefreies Wohnen und Arbeiten sowie Hilfsmittel und Technologien für Menschen mit Behinderungen zu entdecken.

Highlights der Messe: Internationale Produktpräsentation von Hilfsmitteln, über 850 Aussteller aus 40 Ländern und Themenparks und Fachforen zu sozialer und beruflicher Rehabilitation. Hannes Niemann, Direktor der diesjährigen Messe, wird exklusive Einblicke in die Veranstaltung geben.

LEADERSNET: Die REHACARE ist die größte, internationalste REHA Messe der Welt. Es werden heuer 850 Aussteller aus 40 Ländern und 45.000 Besucher aus mehr als 80 Ländern erwartet. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Trends und Entwicklungen, die auf der diesjährigen REHACARE International vorgestellt werden? Welche besonderen Highlights und Neuheiten können Besucher auf der REHACARE International 2024 erwarten?

Hannes Niemann: Die REHACARE blickt stets in die Zukunft der Rehabilitationstechnik. Sie präsentiert innovative Hilfsmittel, die zwar oft noch kostspielig, aber äußerst vielversprechend sind. Ein markanter Trend ist die rasante Digitalisierung im Pflegesektor: Von Apps zur effizienten Organisation von Pflegediensten bis hin zu KI-gestützten Abrechnungssystemen revolutionieren digitale Lösungen die Versorgung von Pflegebedürftigen und deren Angehörigen.

Im Bereich der Hilfsmittel dominieren Robotik und künstliche Intelligenz. Moderne Prothesen, gesteuert durch hochentwickelte Computerchips, ermöglichen eine nahezu natürliche Bewegungsfreiheit bis ins Kniegelenk. Exoskelette versprechen neue Mobilität für Menschen mit Bewegungseinschränkungen. Selbst altbewährte Hilfsmittel wie Rollstühle erfahren eine beeindruckende Evolution: Sie bewältigen Treppen, verfügen über intuitive Steuerungen und bieten sogar die Möglichkeit, den Nutzer auf Augenhöhe zu bringen – ein bedeutender Schritt zur Inklusion und Würde der Betroffenen.

LEADERSNET: Sie sprechen damit das Thema Mobilität an. Was tut sich in diesem Bereich?

Hannes Niemann: Mobilität steht im Zentrum der REHACARE, wo bahnbrechende technologische Innovationen präsentiert werden. Der Trend zu KI-gesteuerten, umgebauten Fahrzeugen ebnet den Weg zum autonomen Fahren – eine Revolution für Menschen mit Einschränkungen. Diese Fahrzeuge, die zunehmend selbstständig agieren, eröffnen nie dagewesene Freiräume und reduzieren die Notwendigkeit menschlichen Eingreifens auf ein Minimum.

Die REHACARE verfolgt das Ziel, ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Die Kernfrage lautet: Wie können Menschen unabhängig von A nach B gelangen, ohne auf externe Hilfe angewiesen zu sein? Die Antwort liegt in der Vielfalt innovativer Hilfsmittel und Produkte, die dank technologischen Fortschritts immer autonomer werden. Von smarten Rollstühlen bis zu neuronal gesteuerten Prothesen – die Bandbreite der Mobilitätslösungen wächst stetig. Exoskelette ermöglichen Gehbehinderten aufrechtes Gehen, während virtuelle Realität neue Therapieansätze bietet. Diese Entwicklungen fördern nicht nur die physische Mobilität, sondern auch die soziale Teilhabe und psychische Gesundheit der Nutzer.

LEADERSNET: Herr Niemann, was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe für den anhaltenden Erfolg und die Bedeutung der REHACARE International als führende Fachmesse in diesem Bereich?

Hannes Niemann: Der demografische Wandel hin zu einer alternden Gesellschaft ist ein globaler Trend, der die Bedeutung von Rehabilitationstechnik und Pflegelösungen stetig erhöht. Nicht nur in Europa, sondern auch in Ländern wie Japan, Südkorea und China gewinnt dieses Thema rasant an Dynamik und wird in naher Zukunft eine noch größere Rolle spielen.

Die REHACARE positioniert sich als Impulsgeber in diesem Sektor und vereint Aussteller und Besucher aus allen Kontinenten. Sie bietet einen einzigartigen, umfassenden Überblick über Innovationen und Lösungen, der in dieser Breite und Tiefe weltweit einzigartig ist. Von Marktführern über internationale Konzerne bis hin zu agilen Start-ups und Nischenanbietern - die gesamte Bandbreite der Branche ist vertreten.

Diese Vielfalt macht die REHACARE zur weltweit führenden Messe in ihrem Bereich. Sie deckt die gesamte Wertschöpfungskette ab und spricht sowohl Betroffene und Privatpersonen als auch institutionelle Akteure, NGOs und Regierungsvertreter an. Experten, Forscher und Unternehmensführer bieten fundierte Einblicke und stehen für tiefgreifende Diskussionen zur Verfügung.

LEADERSNET: Eine wegweisende Studie in 'The Lancet Public Health' analysierte die gesunde Lebenserwartung in 195 Ländern und offenbarte ein komplexes Bild: Während die gesunde Lebenserwartung in den meisten Industrienationen zwar anstieg, hielt sie mit dem Wachstum der Gesamtlebenserwartung nicht Schritt. Diese Diskrepanz wirft entscheidende Fragen für Gesundheitssysteme und Gesellschaften weltweit auf. Wie adressiert die REHACARE konkret diese Thematik? Welche Strategien und Innovationen werden vorgestellt, um nicht nur die Lebensdauer, sondern vor allem die Jahre in guter Gesundheit zu verlängern?

Hannes Niemann: Die Rehabilitationstechnik erlebt derzeit eine Revolution: Bahnbrechende Innovationen ermöglichen heute, was vor einem Jahrzehnt noch als Science-Fiction galt. Querschnittsgelähmte können dank modernster Exoskelette wieder aufstehen und Schritte machen - ein Meilenstein in der Medizintechnik.

Diese rasante Entwicklung spiegelt sich auch in der gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Akzeptanz wider. In Deutschland haben Exoskelette inzwischen eine Hilfsmittelnummer erhalten, was ihre Erstattung durch Krankenkassen ermöglicht. Dies markiert einen Paradigmenwechsel in der Versorgung von Menschen mit Behinderungen. Die Vorteile dieser Technologien gehen weit über die offensichtliche Mobilitätssteigerung hinaus. Sie fördern die Durchblutung, stimulieren den gesamten Organismus und können langfristig Folgeerkrankungen und damit verbundene Behandlungskosten reduzieren. So leistet die Rehabilitationstechnik einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Entlastung des Gesundheitssystems.

Parallel zu diesen High-Tech-Lösungen beobachten wir eine wachsende Akzeptanz für etablierte Hilfsmittel. Der Rollator, einst stigmatisiert, ist heute ein selbstverständlicher Teil des Straßenbildes. Diese Entwicklung zeigt, wie sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Hilfsmitteln und Betroffenen insgesamt wandelt.

LEADERSNET: Die westliche Welt wird in den kommenden Jahren zunehmend von Überalterung gekennzeichnet sein. Welche Herausforderungen sehen Sie in der Zukunft der Rehabilitation und Pflege, und wie kann die Messe dazu beitragen, diese zu bewältigen?

Hannes Niemann: Eine der drängendsten Herausforderungen im europäischen Gesundheitswesen ist der zunehmende Fachkräftemangel, gekoppelt mit steigenden Kosten. Um diesem Trend entgegenzuwirken, wird verstärkt auf häusliche Pflege gesetzt. Hierbei spielen innovative Hilfsmittel und Robotik eine Schlüsselrolle, da sie nicht nur die Lebensqualität der Pflegebedürftigen verbessern, sondern auch eine kosteneffiziente Alternative zur stationären Versorgung bieten.

Die Integration von Robotern in die Pflege war anfangs ethisch umstritten. Ein Beispiel dafür war die Präsentation eines Roboters auf der REHACARE, der Patienten beim Essen assistieren konnte. Was damals kontrovers diskutiert wurde, ist heute in Ländern wie Japan bereits Alltag. Diese Entwicklung verdeutlicht den rasanten Wandel in der Akzeptanz technologischer Lösungen im Pflegebereich.

Wir stehen vor einem Paradigmenwechsel: Um unser Gesundheitssystem nachhaltig zu entlasten und gleichzeitig eine qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten, müssen wir uns mit dem Einsatz robotischer Assistenzsysteme auseinandersetzen. Dabei geht es nicht darum, menschliche Pflege vollständig zu ersetzen - dies wird auch in absehbarer Zukunft weder technisch möglich noch wünschenswert sein. Vielmehr liegt der Fokus darauf, Routineaufgaben zu automatisieren und so das Pflegepersonal zu entlasten.

LEADERSNET: Gibt es spezielle Angebote oder Bereiche auf der REHACARE für Start-ups und Innovatoren in der Branche?

Hannes Niemann: Die REHACARE hat sich als Innovationsinkubator etabliert, indem sie gezielt Plattformen für Start-ups geschaffen hat. Diese Flächen bieten jungen, kreativen Unternehmen die Möglichkeit, ihre bahnbrechenden Ideen einem breiten Fachpublikum zu präsentieren. Ein herausragendes Beispiel für diese Innovationskraft ist Munevo. Obwohl erst wenige Jahre am Markt, hat dieses Unternehmen bereits die Grenzen der Rollstuhltechnologie neu definiert. Ihr revolutionäres Produkt: ein Rollstuhl, der mittels Google Glass gesteuert wird. Diese Technologie eliminiert die Notwendigkeit manueller Steuerung durch Joysticks oder Räder und ermöglicht eine Kontrolle allein durch Augenbewegungen. Was als akademisches Projekt begann, hat sich zu einem vollwertigen Unternehmen entwickelt, das die Mobilität für Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen neu gestaltet.

Die Integration solcher Cutting-Edge-Technologien in alltägliche Hilfsmittel verdeutlicht das immense Potenzial der Verschmelzung von Rehabilitationstechnik und digitaler Innovation. Es zeigt, wie interdisziplinäre Ansätze zu Lösungen führen können, die noch vor kurzem undenkbar schienen. Jährlich präsentiert die Messe nicht nur die neuesten Trends und Produkte, sondern bietet auch spezialisierte Angebote für Start-ups und ihr Ökosystem. Damit schafft sie eine einzigartige Symbiose aus etablierten Unternehmen und aufstrebenden Innovatoren, die gemeinsam die Zukunft der Rehabilitationstechnik gestalten.

LEADERSNET: Blicken wir in die Zukunft: Wie sehen Sie die Entwicklung der REHACARE in den nächsten 5-10 Jahren?

Hannes Niemann: Ein Schlüssel zum Erfolg in der Rehabilitationstechnik liegt in der Vernetzung aller relevanten Akteure: von Betroffenen und ihren Angehörigen über Unternehmen, Krankenkassen und Sanitätshäuser bis hin zu politischen Entscheidungsträgern. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit geht weit über das Gesundheitssystem hinaus und zielt darauf ab, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen innovativer Hilfsmittel und Technologien zu maximieren.

Der demografische Wandel fungiert hierbei als starker Katalysator. Eine alternde Gesellschaft erhöht nicht nur den Bedarf an assistiven Technologien, sondern treibt auch deren Weiterentwicklung voran. Diese Dynamik schafft Chancen für Innovationen, die sowohl dem Einzelnen als auch der Gesellschaft als Ganzes zugutekommen.

Die REHACARE positioniert sich in diesem Kontext als globale Plattform für den Wissens- und Technologietransfer. Sie bietet insbesondere für Länder mit noch weniger entwickelten Rehabilitationssystemen einen 'Markt der Möglichkeiten'. Delegationen aus aller Welt erhalten hier Einblicke in zukunftsweisende Lösungen und können von den Erfahrungen fortschrittlicher Märkte profitieren.

China dient hierbei als beeindruckendes Beispiel für einen rapiden Wandel: Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Integration von Menschen mit Einschränkungen und Erkrankungen fundamental verändert. Diese Transformation unterstreicht das Potenzial des internationalen Austauschs für die Förderung einer inklusiven Gesellschaft weltweit.

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