Der 53-jährige Max-Planck-Chemiker und -Molekularbiologe (MPG) Patrick Cramer hat gezeigt, wie das Coronavirus sein Erbgut kopiert und wie die COVID-19-Medikamente Remdesivir und Molnupiravir in diesen Kopierprozess eingreifen. Durch eigene Arbeiten und langjährige Nachwuchsförderung hat Cramer zur Entwicklung der Biowissenschaften beigetragen.
Der für die Amtsperiode 2023 bis 2029 gewählte MPG-Präsident engagiert sich auch für die Wissenschaftsreihe im Rahmen des Göttinger Literaturherbsts 2022. Im Interview mit Pressetext erläutert Cramer seine Vorstellungen, wie trotz mächtiger Algorithmen, Bots, Fake News unter anderem Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung sachlich, fundiert und verständlich kommuniziert werden.
Herr Cramer, Sie moderieren am 2. November in Göttingen die Veranstaltung mit den BioNTech-Gründern Özlem Türeci und Ugur Sahin sowie dem Journalisten Joe Miller. Was kann das Event zur Standortbestimmung und weiteren sachlichen Informationen rund um das Thema COVID-19 beitragen?
Cramer: Zunächst geht es darum, was es konkret bedeutet, in so extrem kurzer Zeit einen Corona-Impfstoff herzustellen, noch dazu basierend auf der neuen mRNA-Technologie. Der Erfolg baut auf Jahrzehnten von Grundlagenforschung auf. Auch kamen in den letzten Jahren viele technologische Entwicklungen hinzu. Schließlich geht es um die Frage, wie es jetzt weitergeht im Kampf gegen das Virus: Lassen sich Impfstoffe so kombinieren, dass verschiedene Subtypen abgedeckt werden? Wie geht man damit um, dass noch immer viele skeptisch sind gegenüber der Impfung? Wie kann die Technologie noch verwendet werden, gegen welche andere Krankheiten werden wir bald neue Mittel in der Hand halten?
Mit ihrem Team haben Sie gezeigt, wie das Coronavirus sein Erbgut kopiert und wie Remdesivir sowie Molnupiravir in diesen hochkomplexen Kopierprozess eingreifen. Wie lassen sich derartige Erkenntnisse und komplizierte Wirkmechanismen "Normalbürgern" verständlich erklären?
Cramer: Wir haben uns bemüht, eine anschauliche Sprache und ganz einfache Abbildungen zu wählen. Zudem haben wir Erklärvideos ins Netz gestellt und auch Aufzeichnungen von Vorträgen. Ich kam immer wieder mit der Öffentlichkeit ins Gespräch und habe auch allgemeine Artikel zum Thema Impfen geschrieben, um den vielen Fake News etwas entgegenzustellen. Die Schwierigkeit ist dabei nicht, dass man oft viele beleidigende oder bedrohende Kommentare erhält. Vielmehr sollten wir einen Weg finden, wie wir an das eine Drittel der Bevölkerung kommen, das sich mit solchen Videos, Vorträgen und Veröffentlichungen nicht erreichen lässt. Ein Schlüssel liegt in den sozialen Medien, auch wenn man dann in eine Blase geraten kann. Die öffentlich-rechtlichen Sender sind auch wichtig, denn sie produzieren sehr gute Erklärvideos, die weit verbreitet werden sollten.
Komplexität und Informationsfülle überfordern immer mehr Menschen. Die Sehnsucht nach einfachen Antworten auf komplizierte Fragen steigt. Fake News sind allgegenwärtig. Wie können Wissenschaft, Politik und Medien aus Ihrer Sicht gegensteuern?
Cramer: Die zunehmende Kompliziertheit unserer Umwelt und die Komplexität einiger Bereiche unserer globalisierten Welt führen oft zu Überforderung und stellen eine Bedrohung für freie Gesellschaften und demokratische Staaten dar. Denn nur Menschen, die urteilsfähig sind, treffen an der Wahlurne informierte Entscheidungen. Die Demokratien sollten organisierter Fehlinformation durch Kampagnen und Bots in den sozialen Medien vehement entgegentreten, wenn nötig auch durch entsprechende Gesetzgebung. Wichtig sind auch die Schulen. Hier sollte eingeübt werden, wie man mit den digitalen Medien umgeht und wie man sich sachkundig und neutral informieren kann. Die Wissenschaft hat nicht nur die Pflicht, ihre Ergebnisse allgemeinverständlich darzustellen. Wissenschaftler müssen auch Ergebnisse, die die Menschen direkt betreffen – Stichwort Klimaforschung oder Gesundheitsforschung – umgehend kommunizieren. Allerdings gibt es nicht nur eine Bringschuld der Wissenschaft, es gibt auch eine "Holschuld" der Politik und Gesellschaft, wie es Reimar Lüst einmal formuliert hat. Damit gemeint ist eine Offenheit gegenüber der Wissenschaft und das Hochhalten der Prinzipen der Aufklärung.
Der menschengemachte Klimawandel hat massive Auswirkungen. Am 4. November diskutieren Sie in Göttingen mit der Meeresbiologin Antje Boetius, was das für Ozeane, Tiefsee, Polarregionen und mikrobielle Biodiversität bedeutet. Wie lassen sich Klimaleugner überzeugen, die Fakten in Abrede stellen?
Cramer: Dass es menschliche Aktivitäten sind, die zur derzeitigen Erderwärmung geführt haben, wurde bereits vor rund 100 Jahren vermutet und ist seit den 1980er-Jahren eindeutig belegt. Gerade habe ich das Max-Planck-Institut in Hamburg besucht, wo dieser Nachweis erbracht wurde durch den Nobelpreisträger Klaus Hasselmann und seine Mitarbeitenden. 2022 zu leugnen, dass der Klimawandel menschengemacht ist, ist nicht akzeptabel. Selbst wenn man die wissenschaftlichen Hintergründe nicht versteht, muss auffallen, wie sehr sich Dürren, Hochwasser und andere extreme Wettersituationen in den letzten beiden Jahrzehnten gehäuft haben und dass dies kein Zufall ist. Auch der Verlust an Biodiversität ist nicht von der Hand zu weisen und hat unseren Alltag erreicht. Tierarten sterben in nie da gewesener Geschwindigkeit aus.
Algorithmen als "Gatekeeper" von Information und Wissen sind nicht unumstritten. Wie kann die Wissenschaft aktuelle Ergebnisse ungefiltert, unverfälscht und direkt an den Bürger vermitteln? Wie müssen Künstliche Intelligenz (KI) und Algorithmen strukturiert sein, um, unabhängig von Meinungen und Interessen, Wissen sachbezogen und aktuell zu kommunizieren?
Cramer: Algorithmen definieren unsere Medien-Blasen. Zudem bleiben die öffentlich-rechtlichen Sender wichtig, um Dinge zu hinterfragen und so aufzuarbeiten, dass ein ausgewogenes Bild entsteht. Demokratien müssen sich auch durch Gesetze gegen die zunehmende Macht der Maschinen über Meinungen wehren, denn es werden durch Bots ja bereits Wahlen beeinflusst. Im Moment werden die Such- und Sortier-Algorithmen im Netz von den globalen IT-Riesen vorgegeben. Hier geht es vor allem um die Maximierung von Konsum, etwa durch gezielte Werbung. Ich bin allerdings zuversichtlich, dass wir durch frühe Aufklärung in den Schulen und gesetzliche Maßnahmen auch diese Bedrohung in den Griff bekommen. Große Sorgen machen mir sogenannte Deep Fakes, die inzwischen so realitätsnah sind, dass selbst Experten darauf hereinfallen. Auch hier scheinen mir gesetzliche Leitplanken sinnvoll.
Google, Meta, Apple, Amazon oder Unternehmer wie Elon Musk schaffen im Zeitalter von Internet und KI häufig einfach Fakten und setzen um, was technisch machbar ist. Die Folgen ihres Handeln auf den Menschen scheinen dabei auf der Strecke zu bleiben.
Cramer: Wir erleben eine nie da gewesene Beschleunigung der kulturellen Evolution. Auch kann der Gesetzgeber manches Mal erst spät korrigierend eingreifen. Globalen Firmen unterhalten große Forschungsabteilungen, die die Entwicklung neuer Produkte weiter beschleunigt. Das Grundprinzip, wie Neues in die Welt kommt, bleibt erhalten. Alles beginnt mit Grundlagenforschung, angetrieben von unserer natureigenen Neugier. Solch eine aus Neugier getriebene, freie Grundlagenforschung auf höchstem Niveau ist die große Stärke der MPG und das so generierte Wissen ihr essenzieller Beitrag zu unserer Zukunft. Die Grundlagenforschung liefert "Vorratswissen" und schafft neue Handlungsoptionen. Welche dieser Optionen dann umgesetzt werden, entscheiden wir als demokratische Gesellschaft. Oft entstehen aus der Forschung aber auch Ideen für die Anwendung und so kommt es zu Firmengründungen, zu neuen Produkten oder Dienstleistungen. Deshalb legen wir in der MPG großen Wert auf Scouting, um solche verwertbaren Ideen auch früh zu entdecken.
Mit Ihrer MPG-Präsidentschaft verlagert sich einer Ihrer Arbeitsschwerpunkte nach München. Wie weit werden Sie dann noch die Wissenschaftsreihe des Göttinger Literaturherbsts 2023 mit initiieren und begleiten können?
Cramer: Ich werde es mir erlauben, weiterhin ab und zu Vorschläge für Einladungen von herausragenden Autoren und Vortragenden zu unterbreiten, aber darüber werden dann allein meine Kollegen in Göttingen entscheiden, denen ich das Beste für künftige Veranstaltungen wünsche. Ich werde auch versuchen, in Zukunft nach wie vor bei der ein oder anderen Veranstaltung des Literaturherbsts dabei zu sein. Ich plane auch, das erfolgreiche Format der Abendveranstaltungen aus der Wissenschaftsreihe in München oder Berlin bei einzelnen Veranstaltungen anzuwenden. Vermissen werde ich den Literaturherbst in jedem Fall sehr.
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