Die CEO von Klitschko Ventures im Interview
Tatjana Kiel: "Beim Thema Krieg versuche ich Zusammenhänge zu erklären"

| Dagmar Zimmermann 
| 04.07.2024

Tatjana Kiel war und ist CEO von Klitschko Ventures – mit dem Kriegsbeginn in der Ukraine bekam ihre Arbeit eine weitere Ausrichtung. Gemeinsam mit Dr. Wladimir Klitschko gründete sie die Hilfsorganisation "#WeAreAllUkrainians", um Hilfsmaßnahmen und -projekte in der Ukraine voranzutreiben.

Heute leitet sie die GmbH gemeinsam mit Dörte Kruppa als Geschäftsführerinnen. Mit LEADERSNET sprach sie über starke Partnerschaften, echte Resilienz und die Macht von Social Media. 

LEADERSNET: Frau Kiel, täuscht der Eindruck – oder wird der Fokus tatsächlich nach zweieinhalb Jahren, seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, auf andere Themen verschoben?

Tatjana Kiel: Das ist richtig, der Blickwinkel hat sich verändert – was auch an den Themen liegt, die uns beherrschen. Es gab Überschwemmungen in Deutschland, es existiert der Nahostkonflikt und es bewegen uns andere, aktuelle Ereignisse.

LEADERSNET: Wie schaffen Sie es selbst, so fokussiert zu sein?

Tatjana Kiel: Es mag paradox klingen, aber ich behalte den Fokus, indem ich ganz viele unterschiedliche Dinge tue. Umso mehr Möglichkeiten ich hier habe, umso einfacher fällt es mir wieder zu mir zu kommen und zu sagen: Was ist jetzt das wirklich Richtige und Wichtige, was wir umsetzen können? Und was davon hat das meiste Erfolgspotenzial und erreicht die meisten Menschen? Während wir früher sehr viel breiter unterwegs waren, konzentrieren wir uns jetzt auf die ganz großen Projekte, mit denen wir den meisten Impact erzielen können. So ist der Fokus sehr viel schneller auf das große Ganze gerichtet.

LEADERSNET: Wie führen Sie?

Tatjana Kiel: Bei "#WeAreAllUkrainians" sind wir fast alle remote und ehrenamtlich. Da ist das Führen eher ein Austausch. Hier stellen wir immer wieder die Frage: Brauchst du Hilfe? Für uns ist es wichtig, dass pro Person ein Projekt umgesetzt wird. So bist du nicht mehr in der Tiefe in allen verschiedenen Silos, sondern "nur noch" in deinen Projekten unterwegs. Das funktioniert hervorragend: Die Arbeit ist planbar, der Aufwand klar.

LEADERSNET: Können Sie ein Beispiel solch einer Partnerschaft nennen?

Tatjana Kiel: Die Harald Christ Stiftung hat dank ihrer Benefizoperngala unter anderem 550.000 Euro gespendet für die Community Center in der Ukraine. Dazu muss ich kurz ausholen: In jedem Kriegsland, also nicht nur in der Ukraine, dürfen viele Schulen nicht öffnen, weil sie keinen Luftschutzkeller oder Bunker haben. Ganz viele Schulen sind aus diesem Grund geschlossen und die Kinder brauchen Betreuung, einen Zufluchtsort, wo sie essen, beim Lernen unterstützt und auch psychologisch betreut werden. Mit so einer Summe können wir neue Community Center einrichten und bestehende finanzieren. Damit beschaffen wir auch viele Produkte, die dort gebraucht werden. Die Zahnpflege ist beispielsweise eine Katastrophe – hätten wir solche Gelder nicht, könnten wir diesen Bedarf nicht decken.

LEADERSNET: Sie sind neben Judith Williams und Sara Nuru in einer Kampagne zum Weltflüchtlingstag zu sehen, in der Sie als Raumpflegerin dargestellt sind. Wie kam es dazu?

Tatjana Kiel: Ich kenne und schätze Zarah Bruhn von socialbee schon lange. Wir tauschen uns immer wieder aus und versuchen uns gegenseitig zu unterstützen. Bei dieser Kampagne geht es darum zu fragen: Wie schaffen wir es, das Potenzial, das jeder Mensch mitbringt, zu erreichen und zu nutzen? Gerade bei Hilfesuchenden oder Flüchtlingen verlieren wir viele Fachkräfte und auch viel Potenzial. Ich bin immer erstaunt, wie starr wir in bestimmten Prozessen verhaftet sind. Da gibt es viele andere Beispiele in anderen Ländern, die das offensichtlich besser machen. Teilweise wird mir berichtet, dass es drei Termine beim Arbeitsamt dauert, bis überhaupt einmal verstanden wird, welche Qualifikationen die Person genau hat. Ich will an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, weil es nicht mein Thema ist, aber wir müssen das Potenzial der Menschen besser nutzen – dann kommt auch nicht das Gefühl auf, sie wollen nicht arbeiten.

LEADERSNET: Die Kampagne ist recht provokativ…

Tatjana Kiel: Richtig – und die vorgestellte Frage ist: Wäre ich dazu bereit, putzen zu gehen, wenn ich müsste? Aber dann kommt die eigentliche Frage, nämlich wie es dann mit dem Potenzial steht, das wir mitbringen. Es wäre natürlich eine Katastrophe, weil ich ganz andere Potenziale habe, die ich dann nicht nutzen könnte. Es geht darum zu sagen: Wie schaffen wir beim Fachkräftemangel, dieses Potenzial besser zu verstehen und auch besser zu nutzen. Ich finde die Kampagne super, um wachzurütteln und zu zeigen, worum es uns eigentlich gehen sollte: nämlich das Potenzial der Menschen.

LEADERSNET: Wie hat sich Ihr Blick auf Flüchtlinge in den letzten Jahren geändert?

Tatjana Kiel: Der Blick hat sich tatsächlich nicht geändert. Ich glaube, dass wir aufpassen müssen, dass wir nicht in "besser" oder "schlechter" unterteilen. Wir müssen sehr genau hinsehen: Wer möchte sich wirklich einbringen und wer will es eigentlich nicht? Daraus müssen Konsequenzen folgen, welche das auch immer sind.

LEADERSNET: Zuletzt gab es Diskussionen um das Bürgergeld für wehrpflichtige Ukrainer. Wie stehen Sie dazu?

Tatjana Kiel: Ich bin keine Politikerin. Es ist einfach, sich ein Urteil zu erlauben, wenn man selbst nicht in der Situation steckt.

LEADERSNET: Wie sieht der Kontakt zu den beiden Klitschko-Brüdern aktuell aus?

Tatjana Kiel: In der Anfangszeit hatten wir täglich Kontakt, da mussten Bedarfe sehr schnell gemeldet werden. Mittlerweile haben sich die Bedarfe geändert und wir haben mit "#WeAreAllUkrainians" selbst viel Kontakt zu ukrainischen NGOs und wissen, was gebraucht wird. Nur, wenn etwas kommt, womit wir gar nicht rechnen, dann lassen wir uns das von Wladimirs oder Vitalis Team einordnen. Fakt ist: Es gibt Zeiten, in denen ich fünfmal am Tag mit Wladimir telefoniere, und Zeiten, in denen wir fünf Tage nichts voneinander hören. Wir versuchen, dem anderen den Raum zu lassen, den er braucht. Es kommen täglich so viele neue Themen zu uns, wir versuchen, diese schnell abzuarbeiten.

LEADERSNET: Ihre eigene Sichtbarkeit hat sich mit dem Krieg auch gesteigert…

Tatjana Kiel: Ich hatte schon vor dem Krieg 25.000 bis 30.000 Follower bei LinkedIn. Das, was sich geändert hat, ist mein klarer Fokus auf die Ukraine. Wenn jemand Infos zu dem Thema braucht, landet es relativ schnell bei mir. Wladimir und ich haben eine unterschiedliche Perspektive. Während er die Welt aus der Ukraine heraus betrachtet und Impulse gibt, z.B. wie wichtig Demokratie ist, versuche ich die Dinge hier einzuordnen, um die Menschen hier zu informieren, vor allem wie sie unterstützen können. Für mich ist es eben "nicht nur" der Krieg in der Ukraine, ich beobachte, was Putin insgesamt macht – und was sein Einfluss an den unterschiedlichen Stellen für uns alle bedeutet. Wir ergänzen uns hier sehr gut und machen den anderen durch die eigene Art und Weise noch größer.

LEADERSNET: Welche Rolle spielt denn Social Media im Krieg oder bei der Sichtbarkeit des Krieges?

Tatjana Kiel: Früher konnte man sich solchen Nachrichten sehr schnell entziehen und zurück in die eigene, heile Welt gehen. Nun sind wir alle online – wir entkommen dem nicht. Der Journalismus, z. B. in Tageszeitungen, der früher sehr übergeordnet war, bekommt nun einen viel persönlicheren Touch.

LEADERSNET: Woher nehmen Sie Ihre Stärke?

Tatjana Kiel: Ich merke, wie viele Menschen helfen wollen und wie viele Menschen diesen Krieg für absolut absurd halten. Außerdem versuche ich Zusammenhänge zu erklären, anstatt nur auf das Leid einzugehen. Wenn wir die Welt besser machen wollen, dann funktioniert das nur, wenn wir Zusammenhänge verstehen. Wenn wir nur auf das Leid schauen, dann lindern wir das Leid kurzfristig. Das ist okay, aber wenn wir langfristig aus den Dingen lernen wollen, dann müssen wir verstehen, wie die Dinge zusammengeführt sind.

LEADERSNET: Wie sprechen Sie mit Ihrer Tochter über den Krieg?

Tatjana Kiel: Gerade am Anfang habe ich gemerkt, dass es ihr viel Angst macht und dass wir weniger über Krieg, sondern über Frieden sprechen müssen. Was bedeutet Demokratie? Was machen die AfD und Trump? Wie beeinflusst Social Media die Jugendlichen und wie wichtig sind Werte? Mein Anspruch ist es, die Fragen, die sie hat, zu beantworten, indem sie eine Kausalität verstehen muss. Ich möchte ihr Verständnis schärfen.

LEADERSNET: Was kann jede:r Einzelne tun?

Tatjana Kiel: Wir starten immer wieder Aktionen, an denen sich jeder beteiligen kann. Ganz aktuell hatten wir eine Schulranzenaktion, im Winter kommt die Aktion "Liebe im Karton" von Hanseatic Help. Kurz gesagt: Egal, ob man ein Community-Center, Witwen oder Senioren unterstützen möchte, wir finden eine relativ einfache und schnelle Lösung dafür – in der Ukraine generell, aber im Speziellen rund um Kyiv.

LEADERSNET: Wie schalten Sie persönlich ab?

Tatjana Kiel: Wenn ich abends zu Hause bin, essen wir in Ruhe und ich bastle, stricke oder nähe gemeinsam mit meiner Tochter. Dann geht das relativ schnell. Außerdem lese ich abends sehr, sehr viel. Wenn es ganz schlimm ist, spiele ich z.B. Tetris, um mich abzulenken.

LEADERSNET: Wie ist Ihr Blick in die Zukunft? 

Tatjana Kiel: Die Wahl in Amerika wird einer der – wenn nicht der wichtigste Termin in diesem Jahr, der ganz viel entscheiden wird. Davon wird sehr, sehr viel abhängen. Trump sagt, dass er innerhalb von zwei Tagen den Krieg beenden wird – und zwar pro Russland. Dann haben wir natürlich neue Herausforderungen zu lösen – weil alle die, die nicht unter Russlands Herrschaft leben möchten, flüchten werden.

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