"Netflix steht vor weitaus größeren Herausforderungen als Apple"

| Bernhard Führer 
| 10.05.2023

Marktanalyst Tassilo Seilern spricht im LEADERSNET-Interview über makroökonomische Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf Veranlagungen.

Tassilo Seilern ist Chief Executive Officer (CEO) und Leiter der Research-Abteilung der in London beheimateten Seilern Investment Management. Als Mitglied des Investment-Teams ist er für Analysen von Unternehmen sowie für die Auswahl neuer Unternehmen des Seilern-Universums verantwortlich.

LEADERSNET: Warren Buffett vertritt die Auffassung, dass, "wenn die Märkte gierig sind, Anleger ängstlich sein sollten. Hingegen, wenn die Märkte ängstlich sind, sollten Anleger gierig sein". Wie sehen Sie diese Empfehlung? Ist jetzt ein guter Zeitpunkt zum Einstieg in die Finanz- und Kapitalmärkte? Die Menschen sind ja noch durch die Pandemie, Inflation, Krieg, Energieunsicherheiten, Bankenkriese sowie durch die geopolitische Lage sehr verunsichert und unentschlossen.

Seilern: Im Allgemeinen halte ich die Denkweise Buffets für richtig. Es ist jedoch wichtig, dass das Unternehmen, in das man investiert hat, nicht durch einen Marktrückgang zerstört wird. Wenn man den Luxus hat, in Unternehmen investiert zu sein, die vom makroökonomischen Umfeld relativ unbeeinflusst bleiben, kann man bei fallenden Preisen die gleiche Qualität für weniger Geld kaufen, was immer gut ist. Für den Erfolg relevant ist es jedoch, dass das Unternehmen vom Marktrückgang unberührt bleibt.

Ob es ein guter Zeitpunkt ist, um in den Markt zu investieren, ist schwer zu sagen. Gutes Market-Timing ist in den besten Zeiten schwierig, und wir würden immer davon abraten. Als Aktienanleger sollten Sie einen langen Zeithorizont haben. Wenn Sie diesen Luxus haben, ist der Einstiegszeitpunkt weniger wichtig.

LEADERSNET: Sie investieren ausschließlich in entwickelte Regionen, vorrangig in OECD-Ländern. Weshalb entscheiden Sie sich für andere Anlageregionen? Liegt das daran, dass in anderen Regionen der Markt häufig "mehr" weiß als die Investoren – und auch, dass Korruption und mangelnde Rechtssicherheit in nicht OECD-Ländern ein Thema sind?

Seilern: Dies ist in erster Linie der Fall. Wir wollen in Unternehmen investieren, in denen die Eigentumsrechte solide festgelegt sind, in denen das Rechtssystem die Durchsetzung dieser Rechte ermöglicht und in denen die Standards für die Rechnungsprüfung und die Börsennotierung hoch sind. Wir bevorzugen auch Länder, in denen die Finanzmärkte gut entwickelt sind und in denen der Großteil der Rendite von den Unternehmen und nicht von der Risikoprämie des Landes bestimmt wird.

LEADERSNET: Globale Aktien schneiden in der Regel besser ab als US-Aktien, wenn der US-Dollar schwach und Nicht-US-Währungen stark sind. Der US-Dollar hat sich in den letzten Jahren sehr gut entwickelt – blickt man beispielsweise auf den U.S. Dollar Index. Spricht das nicht derzeit für Veranlagungen in Ex-US Regionen?

Seilern: Im Allgemeinen tätigen wir keine Währungs-Calls. Es ist sehr schwer, das konsequent gut zu machen, und es ist praktisch unmöglich, das Währungsrisiko völlig zu neutralisieren. Also akzeptieren wir es im Wesentlichen einfach und versuchen nicht, mit Währungen zu spekulieren. Letztendlich sind die meisten unserer Anlagen in multinationale Unternehmen investiert, so dass ein Teil ihres Geschäfts davon profitiert, wenn der US-Dollar stark ist, und ein Teil des Geschäfts davon profitiert, wenn er schwach ist.

LEADERSNET: Nun zu einem Thema anderer Natur: wie werden sich die höheren Zinssätze auf die Unternehmen und generell auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken?

Seilern: Höhere Zinssätze sollen die Wirtschaft bremsen. Aus diesem Grund erhöhen die Zentralbanken sie. Sie wollen die Wirtschaft damit kurzfristig bremsen, um die Nachfrage mit dem Angebot in Einklang zu bringen und so den Inflationsdruck zu verringern. Allerdings sind nicht alle Unternehmen gleichermaßen betroffen. Qualitativ hochwertige Wachstumsunternehmen werden nicht unbedingt von höheren Zinsen tangiert, da sie wenig Schulden haben und ihre hohe Kapitalrendite bedeutet, dass sie höhere Kapitalkosten verkraften können. Ihre Bewertung kann jedoch darunter leiden. Wenn die Zinsen steigen, werden sie in der Regel zunächst negativ beeinflusst, da es sich um Anlagen mit langer Laufzeit handelt. Höhere Zinssätze bedeuten, dass die Anleger eine höhere Rendite für ihre Anlagen verlangen, da der Wettbewerb um das Kapital größer ist. Wenn die Unternehmen stabil bleiben, müssen ihre Aktienkurse fallen, um die höheren Renditeerwartungen der Anleger widerzuspiegeln, was im letzten Jahr der Fall war.

LEADERSNET: Weshalb reflektieren viele Anleger auf Investmentformate wie Meme-Aktien (bspw. GameStop Short Squeeze), Kryptowährungen oder andere negative-carry Veranlagungen, ohne deren Gefahrenpotenziale zu kennen?

Seilern: Im Großen und Ganzen scheinen Kleinanleger davon stärker betroffen zu sein als professionelle Anleger. Bei Kleinanlegern spielt der Faktor des Momentum oft eine größere Rolle als bei professionellen Anlegern, die mehr auf die Fundamentaldaten einer Anlage achten.

LEADERSNET: Das aktuell inflationäre Umfeld macht deutlich, wie abhängig wir in Europa von anderen Ländern sind, wenn es zur Sicherstellung leistbarer Energie kommt. Die USA gehen im Gegensatz zu Europa einen anderen Weg. Was sind mögliche Lösungsmöglichkeiten in naher Zukunft? Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Umwelt-, Sozial- und Governance-Faktoren (ESG)? Aus Ihren Newslettern gewinnt man den Eindruck, dass Ihr Zugang zu ESG-Themen ambivalent ist, gleichzeitig sind die ESG-Bewertungen Ihrer Portfolios hoch.

Seilern: Die Bewältigung der Energiewende ist ein äußerst komplexes Thema, das von Natur aus politisch ist, weil man die Interessen und Prioritäten der verschiedenen Menschen in Einklang bringen muss. Wir würden nicht behaupten, die Lösung für ein so komplexes Problem auf gesellschaftlicher Ebene zu haben. Wir konzentrieren uns jedoch darauf, dass unsere Unternehmen keinen übermäßigen Risiken ausgesetzt werden, weshalb wir energieintensive Unternehmen generell meiden.

Ich würde nicht sagen, dass unser Ansatz in Bezug auf ESG ambivalent ist, vielmehr ist er sehr zurückhaltend. Im Jahr 2021 gab es eine enorme Verkaufsdynamik in Zusammenhang mit ESG, und viele in der Branche stellten Behauptungen über ESG im Allgemeinen und ihre ESG-Belange im Besonderen auf, die wir nicht für gerechtfertigt hielten. Wir waren zum Beispiel besorgt über die Behauptungen etlicher Marktteilnehmer, die meinten, dass Investitionen in Unternehmen mit hohen ESG-Werten zu höheren Renditen führen sollten. Wir waren der Meinung, dass diese Behauptung schwer zu verteidigen ist und den ESG-Intentionen schaden würde. Es stimmt, dass unsere Unternehmen nach den Standards vieler Rating-Agenturen überdurchschnittlich gut abschneiden. Ich würde davor warnen, zu viel hineinzuinterpretieren, da die Bewertungssysteme nicht standardisiert sind.

LEADERSNET: FAANG-Aktien, sprich Facebook (jetzt Meta), Amazon, Apple, Netflix und Google (jetzt Alphabet), erlebten im Zuge des allgemeinen Abschwungs an den Märkten enorme Kurseinbrüche. Wie attraktiv sehen Sie FAANG-Aktien generell und aktuell?

Seilern: Wir waren schon immer gegen den Begriff FAANG, weil die Unternehmen, die diesem Akronym zugrunde liegen, zu unterschiedlich sind, um wirklich in einer Gruppe zusammengefasst werden zu können. Sie sind mit sehr unterschiedlichen Problemen konfrontiert und versuchen, von unterschiedlichen Chancen zu profitieren. Netflix zum Beispiel steht vor weitaus größeren Herausforderungen als Apple. Einige dieser Unternehmen halten wir für attraktiv, in andere würden wir niemals investieren.

LEADERSNET: Einige namhafte Anleger sprechen sich dafür aus, dass aufgrund geänderter Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Entwicklungen, die herkömmlichen Bewertungsmaßstäbe für Unternehmen nicht mehr angewendet werden sollten. GAAP-Rechnungslegungsstandards erfordern eine sofortige, gänzliche Abschreibung von Research-, Marketing- und Vertriebskosten. Harte Vermögenswerte wie Sachanlagen können hingegen über viele Jahre abgeschrieben werden. In den Bewertungen dieser New-Economy Unternehmen sollten folglich Anpassungen erfolgen (beispielsweise im Hinblick auf P/E-Multiples oder Margen). Was ist Ihre Auffassung dazu? Sind Anpassungen bei diesen Bewertungen gerechtfertigt bzw. notwendig?

Seilern: Dies ist ein sehr nuanciertes Thema. Wir haben immer gesagt, dass PE- und PB-Multiplikatoren als Bewertungsmaßstäbe sehr kompromittiert sind und wirklich vermieden werden sollten. Letztlich ist die Rechnungslegung eine ungenaue Tätigkeit, und die Menschen neigen dazu, dies zu unterschätzen. Dies gilt insbesondere für immaterielle Werte wie F&E, Marketing usw.. Es gibt jedoch keine einfache Lösung für dieses Problem, da immaterielle Güter von Natur aus sehr viel unsicherer sind und sich ihre wirtschaftlichen Eigenschaften von denen fester Investitionen unterscheiden. Jede scheinbare Lösung für diese Probleme wird zweifellos neue Probleme aufwerfen. Deshalb ist es so wichtig, sich vor einer Investition die Zeit zu nehmen, die Unternehmen eingehend zu studieren, denn bei diesem Thema kommt es auf die Details an.

LEADERSNET: Warren Buffett gilt als die Investoren-Legende schlechthin. Zehntausende Anhänger aus aller Welt reisen jährlich zu seinem "Woodstock des Kapitalismus" (der jährlichen Hauptversammlung seines Unternehmens Berkshire Hathaway – Anm. d. Red.). Blickt man auf die Kapitalrenditen des eingesetzten Kapitals (ROCE) und die Kursentwicklung seines Unternehmens, waren in der Vergangenheit schon bessere Ergebnisse zu beobachten. Was würden Sie "Buffet-Stil-Anlegern" aktuell empfehlen?

Seilern: Warren Buffett, Charlie Munger und Benjamin Graham sind allesamt Investoren, die man studieren sollte. Es ist jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, dass ein großer Teil ihrer Karrieren in sehr unterschiedlichen Zeiten stattfand. Bedenken Sie, dass zu Beginn von Warren Buffetts Karriere die meisten Menschen noch nicht einmal einen Taschenrechner besaßen. Es war viel schwieriger, an Informationen heranzukommen, und der Markt war im Allgemeinen viel weniger ausgeklügelt. Auch die Wirtschaft war eine ganz andere, und die Industrie spielte eine viel größere Rolle als heute. Was damals funktionierte, muss heute nicht mehr funktionieren. Man darf auch nicht vergessen, dass Berkshire Hathaway eine riesige Menge an Kapital investiert. Es ist nur zu erwarten, dass ihre Renditen sinken werden, und sie geben dies auch selbst zu.

www.seilernfunds.com

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