Hannes Ametsreiter leitet seit über sechs Jahren die Geschicke von Vodafone Deutschland. Unter der Führung des gebürtigen Österreichers mauserte sich das Unternehmen zu einem der Vorreiter der 5G-Technik in Europa und er gilt als Wegbereiter der sogenannten "Gigabit-Offensive" von Vodafone.
LEADERSNET Deutschland hat sich mit dem 55-Jährigen darüber unterhalten, von welchen Ländern sich Deutschland beim Thema Digitalisierung etwas abschauen sollte, was es mit dem "Full Flex"-Arbeitsmodell bei Vodafone auf sich hat, wo die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem österreichischen Mobilfunkmarkt liegen und ob das Internet reguliert werden sollte.
LEADERSNET: Herr Ametstreiter, der Digitalisierungsindex 2021 des Instituts der deutschen Wirtschaft und der IW Consult konstatiert, dass Deutschland im vergangenen Jahr "nur ein wenig digitaler" geworden ist. Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, die Digitalisierung voranzutreiben. Was sollte als Erstes angegangen werden?
Ametsreiter: Lahmes Internet in Schulen, Zettelwirtschaft in Arztpraxen, faxende Behörden – der versprochene Digitalisierungsschub durch Corona hat definitiv nicht alle erreicht. Um digitaler zu werden, brauchen wir vor allem eins: Neue digitale Anwendungen und Technologien, die den Menschen das Leben einfacher und lebenswerter machen. Ich denke an die digitale Sprechstunde mit dem Arzt und Augmented-Reality-Brillen im Klassenzimmer. Der Bio-Unterricht wird bestimmt spannender, wenn der Elefant lebensgroß im Klassenzimmer steht. Ich will auch nicht stundenlang in einer Behörde auf meinen neuen Ausweis warten. Das muss digital per App gehen. Reisepässe, Personalausweis, Führerschein – das alles muss über das Smartphone bestellbar und abrufbar sein. Dafür brauchen wir neue Ökosysteme, die den Bürgern einen echten Mehrwert bringen. Dann kommen wir voran.
Grundlage dafür sind digitale Netze. Und da sehe ich Deutschland gut aufgestellt. Unser Zukunftsnetz 5G wächst so rasant wie kein Netz zuvor und doppelt so schnell wie ursprünglich geplant. Mittlerweile erreichen wir rund 45 Millionen Menschen in Deutschland – in der Stadt und auf dem Land. Und das schon vielerorts dank der Standalone-Technologie nicht nur mit hohen Bandbreiten, sondern auch mit Reaktionszeiten, die so schnell sind wie das menschliche Nervensystem. Damit sind wir bisher die Einzigen in Europa. Bis 2023 werden wir mehr als 60 Millionen Menschen mit der modernsten Mobilfunktechnologie zu Hause erreichen. Damit zeigen wir erneut: Wir sind die Pioniere, die Deutschland den Weg vom Industrie- ins Datenzeitalter ebnen.
LEADERSNET: Woran liegt es, dass Deutschland bisher beim Thema Digitalisierung nur Mittelmaß ist?
Ametsreiter: Sowohl Deutschland als auch Österreich haben digitalen Aufholbedarf. Im Mobilfunk hat Österreich die Nase leicht vorne. Bei der Gigabit- und Glasfaserversorgung ist Deutschland Vorreiter. Mit knapp 24 Millionen Gigabitanschlüssen betreiben wir das mit Abstand größte Gigabit-Netz des Landes. Deutschlands Netzausbau wird vor allem durch langsame und umständliche Genehmigungsprozesse ausgebremst.
LEADERSNET: Von welchen Ländern kann sich Deutschland hier etwas abschauen?
Ametsreiter: Hier lohnt sich ein Blick nach Skandinavien oder auch Japan und Korea. Als eines der fortschrittlichsten Länder der Welt kann das Ziel für Deutschland nur heißen: Wir brauchen die modernsten digitalen Netze. Das allein reicht aber nicht. Wir brauchen auch die besten Talente und viel mehr Wagniskapital. Es kann nicht sein, dass ein Land wie Israel mehr Venture Capital bereitstellt und mehr Start-ups hervorbringt als Deutschland. Nur mit der Kombination aus der besten digitalen Infrastruktur, smarten und mutigen Gründern und ausreichend Kapital kann Deutschland wieder eine Spitzenposition bei der Digitalisierung einnehmen.
LEADERSNET: Die Corona-Pandemie hat erstmals das Thema Home-Office in die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit gerückt. Bei Vodafone versuchen Sie, "so individuelle Systeme zu schaffen, wie es irgendwie geht". Wie sieht das in der Praxis konkret aus und was sind die größten Vor- und Nachteile dieser Regelung?
Ametsreiter: Bereits vor der Pandemie waren Home-Office und flexibles Arbeiten gelebte Praxis bei uns. Der Umstieg auf aktuell fast 100 Prozent Home-Office ist uns daher leichtgefallen. Während Corona wurde uns schnell klar: So wie vor der Krise werden wir nie wieder arbeiten. Daher haben wir ein völlig neues Konzept erarbeitet: Full Flex. Im Kern geht es um volle Flexibilität für unsere Mitarbeiter – und den Fokus auf eine Performance- statt Präsenzkultur.
Konkret bedeutet das: Seit dem 1. Oktober 2021 gibt es keine Prozent-Vorgaben mehr fürs Home-Office. Die Mitarbeiter entscheiden flexibel, wo sie arbeiten wollen – zu Hause, mobil oder am Büro-Standort. Bis zu 20 Tage im Jahr kann sogar aus dem EU-Ausland gearbeitet werden. Dazu kommen ein kostenloser Internetanschluss, Bildschirm und Bürostuhl und eine umfassende Unfallversicherung fürs Home-Office.
Das Konzept basiert auf Befragungen unserer Mitarbeiter, denn sie wissen am besten, wo und wann sie produktiv sind. Dazu gehört vor allem Vertrauen – und das haben wir. Die Mitarbeitenden honorieren das: Trotz Corona und fast 100 Prozent Home-Office ist die Produktivität gestiegen und der Krankheitsstand sogar gesunken. Unsere Führungskräfte unterstützen wir mit einem umfangreichen Angebot an Trainings und Schulungen. Vertrauen, Kommunikation und Motivation sind hier ganz entscheidend.
Der Nachteil von Home-Office ist der fehlende persönliche Kontakt. Deshalb wollen wir auch keine 100 Prozent Home-Office-Company werden. Wir Menschen sind soziale Wesen und ein Videocall kann nie ein Schulterklopfen ersetzen. Deshalb können unsere Mitarbeitenden nach der Pandemie auch weiterhin in unsere Büros kommen: Um sich im Team zu treffen und gemeinsam kreativ zu sein. Der Mix macht's.
LEADERSNET: Werden Unternehmen, die diese Flexibilität nicht an den Tag legen, im Wettbewerb um die besten Talente und Köpfe in Zukunft als Arbeitgeber überhaupt noch konkurrenzfähig sein?
Ametsreiter: Die "Bürokultur der Vor-Corona-Zeiten" wird es so nicht mehr geben. Die Menschen haben die neue Flexibilität zu schätzen gelernt. Zudem haben mobiles Arbeiten und Work-Life-Balance bei jungen Top-Talenten einen hohen Stellenwert. Unternehmen, die an einer starren Präsenzkultur festhalten, werden es in Zukunft schwer haben.
LEADERSNET: In einem Gastkommentar für das Buch "Europa kann es besser" haben Sie 2019 die Schaffung der "Vereinigten Digitalstaaten von Europa" gefordert. Aber gibt es überhaupt eine gemeinsame europäische Digitalstrategie und welche Rolle muss Deutschland hier spielen?
Ametsreiter: Ich würde mir wünschen, dass Deutschland eine Führungsrolle im digitalen Europa übernimmt. Und wir sind vielversprechend gestartet: Mit der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel habe ich bereits vor einiger Zeit digitale Zukunftsthemen wie die digitale Identität intensiv besprochen. Sie ist die Grundlage für zahlreiche neue digitale Anwendungen und vereinfacht zum Beispiel die Abstimmung mit Behörden und Verwaltungen. Es bleibt abzuwarten, wie erfolgreich wir die Ziele für 2030 der digitalen Dekade in Europa erreichen.
LEADERSNET: Hat die Corona-Pandemie tatsächlich als "Brandbeschleuniger" für die Digitalisierung fungiert und wenn ja, in welchen Bereichen macht sich das besonders bemerkbar?
Ametsreiter: In einigen Bereichen sehr deutlich: Die stärksten Zuwächse von bis zu 30 Prozent haben wir im öffentlichen Sektor verzeichnet. Hier war der Nachholbedarf dementsprechend groß. Zudem haben Millionen Menschen vollständig auf Home-Office umgestellt. Bargeldloses Zahlen und Online-Shopping sind eine Selbstverständlichkeit, Serien-Streamen ist neuer Volkssport. Das ist eine spannende Dynamik.
LEADERSNET: Welche Rolle kann die Digitalisierung im Kampf gegen den Klimawandel spielen?
Ametsreiter: Laut einer Bitkom-Studie kann Digitalisierung fast die Hälfte zur Erreichung der Klimaziele Deutschlands beitragen. Ich bin überzeugt, dass Digitalisierung die entscheidende Waffe im Kampf gegen den Klimawandel ist. Daher fördern wir grüne Innovationen, um gemeinsam die Klimakrise zu bekämpfen, beispielsweise mit GreenTech-Unternehmen wie Mowea. Mit den Windrädern des Start-ups erzeugen wir an den Mobilfunkmasten Strom. Das reicht aber nicht, um unseren Strombedarf zu decken. Daher sind wir bereits seit 2020 vollständig auf Grünstrom umgestiegen. Wir helfen aber auch anderen Unternehmen nachhaltiger zu werden – mit zehn Prozent Energie.
LEADERSNET: Sie stehen seit 2015 an der Spitze von Vodafone Deutschland. Davor waren sie knapp 20 Jahre am österreichischen Mobilfunkmarkt tätig. Was sind – abgesehen von der Größe natürlich – die größten Unterschiede zwischen den beiden Märkten?
Ametsreiter: Erlauben sie mir eine kleine Ergänzung: Die A1-Gruppe betreibt sowohl Mobilfunk- als auch Festnetze. Der Umsatz der Vodafone Group ist mit über 37 Milliarden Euro fast achtmal so groß wie der von A1, allein Deutschland ist mit über 11,5 Milliarden mehr als doppelt so groß. Ein weiterer Unterschied ist die Vielfalt der Belegschaft: Allein am Campus in Düsseldorf arbeiten Menschen mit 70 unterschiedlichen Nationalitäten. Als Teil des Executive Committee der Vodafone Group ist mein Horizont noch breiter: Von Portugal über die Türkei zu Indien bis zu Südafrika und Mosambik – die Internationalität und kulturelle Vielfalt schätze ich sehr.
LEADERSNET: Eine Reihe von Mobilfunklizenzen laufen 2025 ab. Fürchten Sie, dass es wieder zu einem spektakulären Wettbieten wie in der Vergangenheit kommt?
Ametsreiter: Ich hoffe auf die Bereitschaft von Politik und Regulierung, die Gelder in den Ausbau der Mobilfunkversorgung stecken zu wollen – und nicht in Papier in Form von Lizenzen.
LEADERSNET: Wie müsste die Frequenzvergabe Ihrer Meinung nach neu geregelt werden und was erwarten Sie sich hier von der neuen Regierung?
Ametsreiter: Diese Themen diskutieren wir gerade direkt mit der Politik und der Bundesnetzagentur.
LEADERSNET: Noch eine abschließende Frage: Muss das Internet angesichts der ausufernden Verbreitung von Verschwörungstheorien und Fake News auf den diversen Social-Media-Plattformen mehr reguliert werden?
Ametsreiter: Ich bin Verfechter der freien Marktwirtschaft, die auf fairem Wettbewerb fußt. So entstehen neue Ideen, Plattformen und digitalen Möglichkeiten. Ich freue mich über diese Dynamik. Aber wenn Grenzen überschritten werden, sollte man klar dagegen vorgehen. Hass, Agitation und Drohungen sollte auch im Netz Einhalt geboten werden.
LEADERSNET: Herr Ametsreiter, vielen Dank für das Gespräch! (as)
www.vodafone.de
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