Das Unternehmen Media Control, bekannt für seine Bestsellerlisten, hat in Kooperation mit dem Beratungshaus BearingPoint das KI-Tool "Demandsens" entwickelt. Die Software analysiert Milliarden von Datenpunkten, darunter Verkaufszahlen, Vorbestellungen, Retouren sowie Trends aus sozialen Netzwerken, um den Absatz neuer Bücher präzise vorherzusagen. Geschäftsführerin Ulrike Altig erklärte, das Tool werde im ersten Quartal 2025 auf den Markt kommen.
"Demandsens" soll Verlagen und Buchhändlern helfen, den Absatz neuer Titel noch vor der Veröffentlichung zu planen – und das mit einer erstaunlichen Genauigkeit. In einer Testphase lag die Trefferquote bei durchschnittlich 82 Prozent, bei bestimmten Warengruppen sogar zwischen 95 und 99 Prozent. Die Datenbasis ist beeindruckend: "Allein für Prognosen werden derzeit fünf Milliarden Datensätze in nur 1,3 Sekunden verarbeitet", so Altig im Deutschlandfunk.
Ein Instrument der Effizienz – aber um welchen Preis?
Laut Media Control wird "Demandsens“ ausschließlich von Fachleuten genutzt und bleibt für Endverbraucher unzugänglich. Ziel sei es, Verlagen und Buchhändlern ein Tool an die Hand zu geben, das Überproduktion, Fehlplanungen und Retouren minimiert. Doch genau darin sehen Kritiker ein Problem. Der Fokus auf datenbasierte Bestseller-Prognosen könnte dazu führen, dass kleinere Verlage und weniger bekannte Autorinnen und Autoren in den Hintergrund gedrängt werden.
"Wenn der Erfolg eines Buches vorhergesagt wird, könnten Titel mit nischigen Themen gar nicht mehr eine Chance bekommen, veröffentlicht zu werden“, warnt ein Brancheninsider. Auch die Konzentration auf sicher vermarktbare Inhalte könnte langfristig die Vielfalt der Buchlandschaft gefährden. So schreibt etwa die Süddeutsche, dass Aldous Huxley, Annie Ernaux und Thomas Mann eines in der Sache gemein hätten: Keiner dieser Autoren hätte zu Beginn ihrer Karriere eine Prognose erhalten, die die Veröffentlichung ihrer Bücher aus wirtschaftlicher Sicht gerechtfertigt hätte:.
Wollen wir das überhaupt?
Die Einführung von "Demandsens" lenkt den Blick auch auf die enorme Marktmacht von Media Control. Das Unternehmen verfügt über Daten aus mehr als 9000 Verkaufsstellen und erreicht mit einer Marktabdeckung von 88 Prozent praktisch den gesamten deutschsprachigen Buchmarkt. Diese Datenbasis wird nicht nur für Prognosen genutzt, sondern bildet auch die Grundlage der Bestsellerlisten, die von der Branche als entscheidendes Verkaufsinstrument betrachtet werden.
Auch Erkenntnisse aus Social-Media-Plattformen fließen in das KI-Tool ein. Über eine Kooperation mit TikTok analysiert Media Control monatlich, welche Bücher unter dem Hashtag #BookTok besonders populär sind. Dieses Wissen könnte dazu beitragen, Trends frühzeitig zu erkennen – ein Vorteil für große Verlage, aber möglicherweise ein Nachteil für kleinere Akteure.
Branche reagiert zurückhaltend
Obwohl die technische Innovation beeindruckend klingt, reagieren viele Verlage und Buchhändler abwartend. "Wir planen derzeit nicht, ‚Demandsens‘ einzusetzen“, ließ eine Sprecherin von Hugendubel verlauten. Auch der Suhrkamp-Verlag verweist darauf, dass man die Software noch nicht im Detail kenne und bereits über eigene Prognose-Tools verfüge.
Professor Christoph Bläsi von der Universität Mainz sieht hingegen keinen Grund zur Alarmstimmung. "Schon vor der Einführung von KI-Tools haben Verlage auf Verkaufsprognosen gesetzt. Das Literaturgeschäft war immer eine Mischung aus Kunst und Kalkül“, erklärt er. Dennoch sieht er Potenziale: "KI kann helfen, Retouren zu minimieren, regionale Vorlieben besser zu erkennen und Trends schneller aufzuspüren.“
Chancen und Risiken für die Buchbranche
Langfristig könnte "Demandsens“ den Buchmarkt verändern – im Guten wie im Schlechten. Kritiker befürchten, dass durch die datenbasierte Planung vor allem Mainstream-Titel bevorzugt werden, während innovativere oder experimentelle Bücher weniger Beachtung finden. Gleichzeitig betont Media Control, dass Verlage die Prognosen nur als Hilfsmittel nutzen und mit ihrem eigenen Know-how ergänzen sollen.
Einige Experten sehen in der Technologie auch Vorteile. "Für Leserinnen und Leser könnte es hilfreich sein, wenn sich der Markt stärker an tatsächlichen Interessen orientiert und Orientierung bietet", sagt Bläsi. Gleichzeitig könnten Literaturpreise, die weniger bekannten Autor:innen eine Plattform bieten, dazu beitragen, die Vielfalt im Markt zu erhalten.
Fix ist jedenfalls, dass sich Verlage und Buchhändler damit auseinandersetzen müssen, wie sie mit dieser Technologie umgehen – und wie sie ihre Autonomie bewahren können.
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