Interview mit dem Historiker, Bestsellerautor und Kapitalismus-Experten
Dr. Dr. Rainer Zitelmann: "Armut wird nicht durch Umverteilung oder Reichenhass beseitigt, sondern durch mehr Kapitalismus"

"Entwicklungshilfe zementiert Armut, anstatt sie zu bekämpfen." Mit provokanten Thesen wie dieser hinterfragt Historiker, Unternehmer und Bestsellerautor Dr. Dr. Rainer Zitelmann die Wirksamkeit klassischer Entwicklungshilfe. In seinem neuen Buch "Warum Entwicklungshilfe nichts bringt und wie Länder wirklich Armut besiegen", das im Februar erscheint, analysiert der in über 30 Sprachen übersetzte Autor tiefgreifend die Mechanismen von Armut und präsentiert alternative Strategien für wirtschaftliches Wachstum und nachhaltige Armutsbekämpfung. Warum er überzeugt ist, dass Kapitalismus der Schlüssel zur Lösung ist, erklärt Zitelmann im LEADERSNET-Interview.

LEADERSNET: Margaret Thatcher sagte einmal: "Das Problem mit dem Sozialismus ist, dass einem irgendwann das Geld anderer Leute ausgeht." Sie selbst haben sich vom linken Aktivisten zum überzeugten Marktliberalen gewandelt. Was war der Auslöser für diesen Sinneswandel?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Ich habe mich schon sehr früh politisch engagiert. Mit 13 Jahren habe ich an meiner Schule eine maoistische Rote Zelle gegründet, und mit 17 habe ich eine Schulungsgruppe zum "Kapital" von Marx geleitet. Die Abwendung vom Marxismus begann, als ich Mitte 20 war und mich intensiv mit dem Nationalsozialismus befasst habe. Ich habe ja über Hitlers sozial- und wirtschaftspolitische Vorstellungen promoviert, und mir wurde immer klarer, dass die marxistische Faschismustheorie falsch ist. Aber bis ich dann ein überzeugter Anhänger des Kapitalismus wurde, hat es noch viele Jahre gedauert. Mehr dazu beschreibe ich in meiner Autobiografie "Wenn du nicht mehr brennst, starte neu!"

LEADERSNET: Das 19. Jahrhundert gehörte Großbritannien, das 20. den USA, das 21. allen Anschein nach wird Asien gehören. Afrika hingegen scheint den Anschluss zu verpassen. Was müsste passieren, damit das 22. Jahrhundert vielleicht Afrika gehört?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Der Vergleich von Asien und Afrika ist entscheidend. Afrika hat viel mehr Entwicklungshilfe bekommen als Asien, ist aber immer noch arm. Die Armut in Asien wurde durch mehr Kapitalismus reduziert. Ich war gerade wieder in Vietnam, das Anfang der 90er Jahre noch das ärmste Land der Welt war. Durch die Einführung des Privateigentums und marktwirtschaftliche Reformen sank die Quote der Armen von 80 auf 3 Prozent. Auch in Ländern wie Südkorea, Indien, China, Taiwan und anderen asiatischen Staaten haben marktwirtschaftliche Reformen den Rückgang der Armut bewirkt. Ein Problem vieler afrikanischer Länder ist, dass sie sich in der Opferrolle sehen und den Westen bzw. den Kolonialismus für ihre Probleme verantwortlich machen. Wem ich die Schuld gebe, dem gebe ich auch die Macht – das gilt für Individuen ebenso wie für Nationen. Das ist kein gutes Konzept. Die Vietnamesen waren da klüger. Sie haben weder die USA noch Frankreich, China oder Japan für ihre Probleme verantwortlich gemacht, obwohl all diese Länder Kriege gegen Vietnam führten oder es besetzten. Sie haben die Ursachen für ihre Armut bei sich selbst gesucht – und durch marktwirtschaftliche Reformen ungeheuer viel erreicht.

LEADERSNET: Ihr Buch stellt Entwicklungshilfe infrage. Dennoch gibt es viele Hilfsorganisationen, die von positiven Erfolgen berichten, etwa durch Mikrofinanzprojekte oder Bildungsinitiativen. Haben solche Ansätze Ihrer Meinung nach Potenzial, oder führen auch sie in eine Sackgasse?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Es stimmt, dass viele Hilfsorganisationen ihre Projekte als erfolgreich darstellen. Doch meine Recherchen zeigen, dass solche Erfolge oft nur so lange Bestand haben, wie finanzielle Unterstützung fließt. Sobald die Förderung endet, verpufft der Effekt vieler Projekte – nach fünf oder zehn Jahren bleibt oft kaum etwas davon übrig. Ich beschreibe in meinem Buch mehrere Beispiele, die diese Problematik deutlich machen.

LEADERSNET: Ein zentraler Punkt Ihrer Argumentation ist, dass Entwicklungshilfe mehr schadet als nützt. Die Weltbank hat seit ihrer Gründung 1944 über 1 Billion US-Dollar an Entwicklungshilfe vergeben. Dennoch leben laut UN noch immer 700 Millionen Menschen in extremer Armut. Die OECD hat zwischen 1960 und 2020 über 4,6 Billionen US-Dollar an Entwicklungshilfe bereitgestellt – dennoch ist das Leid in vielen Ländern unverändert hoch. Können Sie erklären, warum dieses Geld Ihrer Meinung nach nicht den erhofften Effekt hatte?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Ich zitiere in meinem Buch zahlreiche Studien, die belegen: Entwicklungshilfe bewirkt meistens nichts, oft sogar das Gegenteil des Gewollten. Ein Großteil des Geldes fließt in die Taschen korrupter Autokraten und stabilisiert deren Regime. Dass die Armut in den vergangenen Jahrzehnten zurückging, hat überhaupt nichts mit Entwicklungshilfe zu tun, sondern mit dem Zusammenbruch des Sozialismus und mehr Kapitalismus in Ländern wie China und Indien. Die meisten Menschen, die im 20. Jahrhundert bei Hungersnöten umkamen, starben in China und der Sowjetunion. Allein bei Maos "Großem Sprung nach vorne" starben zwischen 1958 und 1962 etwa 45 Millionen Chinesen.

LEADERSNET: Der chinesische Reformer Deng Xiaoping prägte den Satz  "Egal ob die Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse." China hat seit 1978 durch marktwirtschaftliche Reformen 800 Millionen Menschen aus der Armut geholt. Ist das chinesische Modell ein Vorbild für andere Entwicklungsländer?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Über China gibt es ein Missverständnis: Es gibt kein "chinesisches Modell". Das betont mein Freund Weiying Zhang von der Peking-Universität immer wieder. Oft wird der chinesische Weg zum Kapitalismus als ein ganz besonderer Weg wahrgenommen, bei dem der große Einfluss des Staates hervorgehoben wird. Dies liegt jedoch nur daran, dass es sich um eine Transformation von einer sozialistischen Staatswirtschaft zum Kapitalismus handelte. Zhang betont, dass Chinas ökonomische Entwicklung grundsätzlich identisch ist mit der in einigen westlichen Ländern – wie in Großbritannien während der industriellen Revolution oder im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten. Sobald Marktmechanismen eingeführt und die richtigen Anreize gesetzt werden, damit Menschen nach Reichtum streben, folgt das Wunder des Wachstums früher oder später.

LEADERSNET: Sie haben sich intensiv mit der Psychologie der Superreichen befasst. Der Ökonom Thomas Piketty argumentiert, dass wachsende Vermögensungleichheit Demokratien gefährdet. Eine Vermögenssteuer von 2% für Milliardäre könnte laut UN jährlich 250 Milliarden Dollar für Entwicklungshilfe generieren. Was spricht aus Ihrer Sicht dagegen?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Alles. Sozialisten wie Piketty suchen immer nur nach neuen Begründungen für ihre Neidparolen gegen Reiche. Armut wird nicht durch Entwicklungshilfe, Umverteilung oder Reichenhass beseitigt, sondern durch mehr Kapitalismus.

LEADERSNET: In Deutschland beträgt die Staatsquote etwa 51%. In vielen erfolgreichen asiatischen Tigerstaaten liegt sie deutlich niedriger. Singapurs langjähriger Regierungschef Lee Kuan Yew setzte auf einen "wohlwollenden Autoritarismus" bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Freiheit. Brauchen Entwicklungsländer zunächst eine "starke Hand" statt westlicher Demokratie?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Das würde ich nicht verallgemeinern. Polen ist ein Beispiel, wo zugleich Marktwirtschaft und Demokratie eingeführt wurden – und das sehr erfolgreich. Darüber berichte ich auch in meinem Buch. Aber ja, es gibt auch Beispiele, wo Reformen unter autoritären Regimen stattfinden, etwa in Vietnam. Ich führe Polen und Vietnam als Beispiele an, wie Nationen der Armut entkommen können: Einmal unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems und einmal unter denen eines Einparteiensystems.

LEADERSNET: Ludwig Erhard prägte das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft mit der Formel "Wohlstand für alle". In Ihren Büchern plädieren Sie für mehr Eigenverantwortung und weniger Staat. Kritiker werfen Ihnen vor, den sozialen Aspekt zu vernachlässigen. Wie viel "sozial" braucht die Marktwirtschaft?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: "Soziale Marktwirtschaft" bedeutete für Erhard nicht etwa einen "goldenen Mittelweg" aus Wettbewerbswirtschaft und Sozialpolitik, sondern die Überwindung traditioneller Sozialpolitik durch eine wohlstandsschaffende Wirtschaftsordnung. Je freier die Wirtschaft sei, desto sozialer sei sie auch. Anders als es heute verstanden wird, war für Erhard die Marktwirtschaft als solche "sozial" – unabhängig von anschließenden Umverteilungsbemühungen, denen er skeptisch gegenüberstand.

LEADERSNET: Wenn Entwicklungshilfe Ihrer Meinung nach nicht funktioniert, was sollte Ihrer Ansicht nach mit den Milliarden geschehen, die jedes Jahr in diese Programme fließen? Wäre es nicht moralisch verwerflich, einfach nichts zu tun?

Dr. Dr. Rainer Zitelmann: Wenn man versteht, dass Entwicklungshilfe den Menschen in armen Ländern unterm Strich mehr schadet als nützt, ist es nicht moralisch, das fortzusetzen. Man muss jedoch unterscheiden: Ich bin nicht gegen humanitäre Hilfe, etwa bei Katastrophen – das ist wichtig und richtig. Aber das hat nichts mit Entwicklungshilfe zu tun. Oft werden diese Mittel für ideologische Projekte ausgegeben, die keinerlei Wirkung haben. Ich nenne in meinem Buch viele Beispiele, wie Steuergelder ineffizient verschwendet werden. Moralisch verwerflich ist es, an einem System festzuhalten, das die Armut nicht bekämpft, sondern zementiert.

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