Mit über 20 Jahren Erfahrung im Gesundheits- und Hospizwesen hat Heinreich einen Weg gefunden, Leid zu lindern und gleichzeitig Momente der Freude und des Lebens zu schaffen. Ihr Credo ist dabei klar: Kinder kommen nicht zum Sterben, sondern zum Leben. Diese Haltung prägt ihre Arbeit und macht sie zu einer besonderen Stimme in der Kinderhospizarbeit.
In diesem Interview nimmt uns Pia Heinreich mit in eine Welt, die für die meisten Menschen unsichtbar bleibt – eine Welt voller Zärtlichkeit, Kraft und unerschütterlicher Hoffnung inmitten großer Herausforderungen.
LEADERSNET: Schätzungsweise 50.000 Kinder und junge Menschen in Deutschland leiden unter einer lebensverkürzenden Erkrankung. Wie hat sich Ihre Perspektive auf das Leben und den Tod in den 20 Jahren Ihrer Arbeit im Gesundheits- und Hospizwesen verändert?
Pia Heinreich: Während meiner Berufstätigkeit in der Kinderhospizarbeit lernte und lerne ich viele Familien kennen, in denen ein – manchmal auch mehrere – Kinder lebensverkürzend erkrankt sind. Für diese ist keine Heilung möglich. Im besten Fall beginnt die Begleitung der Familie bereits mit der Diagnosestellung bis zum Lebensende und in der Trauer. Diese Arbeit im Kinderhospiz prägte meine Sichtweise auf das Leben und den Tod auf tiefgreifende Weise. Die tägliche Begegnung mit schwerkranken Kindern und ihren Familien führt zu einer intensiven Wertschätzung für das Leben in all seinen Facetten. Man lernt, die kleinen Momente des Glücks und der Freude zu schätzen, die oft inmitten von Herausforderungen und Trauer entstehen. Die Konfrontation mit dem Tod wird zu einem Teil des beruflichen Alltags. Dies fördert eine tiefere Akzeptanz des Lebenszyklus und der Unvermeidlichkeit des Todes. Man entwickelt ein Verständnis dafür, dass der Tod ein natürlicher Teil des Lebens ist. Und jeder Mensch – unabhängig davon, wie lang oder kurz sein Leben war – ist und bleibt Teil der Familie, in der er geboren ist.
Die Arbeit mit betroffenen Familien schärft das Bewusstsein für die emotionalen und psychologischen Belastungen, die mit schwerer Krankheit und Trauer verbunden sind. Dies führt zu einer stärkeren Empathie und einem tiefen Mitgefühl für andere, was auch in der Führung meines Teams von großer Bedeutung ist. In der Kinderhospizarbeit liegt der Schwerpunkt oft auf der Verbesserung der Lebensqualität. Daher stehen die Entlastung und Stärkung des gesamten Familiensystems im Fokus. Die Herausforderungen, die mit der Arbeit im Kinderhospiz verbunden sind, fördern eine bemerkenswerte Resilienz. Man lernt, mit Verlusten umzugehen und gleichzeitig Hoffnung, Trost und Unterstützung zu bieten.
LEADERSNET: Sie sagen, Kinder kommen zum Leben – wie gelingt es Ihnen und Ihrem Team, trotz der schwierigen Umstände Momente der Freude und Lebendigkeit zu schaffen?
Pia Heinreich: Wir nehmen die Kinder und jungen Menschen als Individuen mit ihren Bedürfnissen und Wünschen wahr. In unserem Fokus stehen die Ressourcen und nicht die Defizite. Und bei jedem Kind, egal wie schwer krank es ist, können wir Glücksmomente schaffen. Diese, oft im ersten Moment verborgenen, Gefühle und Fähigkeiten der Kinder sind wie Schätze, die gehoben werden wollen. Das kann ein Lächeln sein oder auch ein fröhliches Lautieren. Mit Fachwissen, Humor und Kreativität gelingt es immer wieder, positive Erlebnisse zu schaffen. Es geht darum, im Hier und Jetzt zu leben und den Alltag nach dem Befinden des Kindes zu gestalten.
LEADERSNET: Etwa 40 % der Familien in Kinderhospizen leben unter der Armutsgrenze. Wie unterstützen Sie diese Familien über die medizinische Versorgung hinaus?
Pia Heinreich: Einige unserer Familien leben tatsächlich an der Grenze zur Armut. Das Kinderhospiz bietet nicht nur palliativ-pflegerische und medizinische Versorgung. Die Belastungen, die mit einer schweren Erkrankung einhergehen, betreffen das gesamte Familiensystem. Deshalb ist es so wichtig, nicht nur die kranken Kinder, sondern deren Familien umfassend zu unterstützen. Die Arbeit im Kinderhospiz erfordert eine enge Kooperation zwischen verschiedenen Fachrichtungen, darunter Pflegekräfte, Pädagogen, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter. Diese interdisziplinäre Herangehensweise ist entscheidend, um den Bedürfnissen der Familien gerecht zu werden. Weiterhin ist eine gute Netzwerkarbeit aller beteiligten Akteure von großer Bedeutung.
LEADERSNET: Welche Rolle spielen ehrenamtliche Mitarbeiter:innen, die Sie als "Zeitschenker:innen" bezeichnen, in Ihrem Hospiz, und wie werden sie auf ihre Aufgaben vorbereitet?
Pia Heinreich: Ehrenamtliche Familienbegleiter:innen bringen nicht nur wertvolle Zeit und Aufmerksamkeit mit, sondern auch eine besondere menschliche Wärme, die für die Familien und Kinder in schwierigen Zeiten von unschätzbarem Wert ist. Ihre Aufgaben reichen von der Begleitung der Kinder und Jugendlichen über die Unterstützung der Familien bis hin zu kreativen Aktivitäten, die Freude und Ablenkung bringen. Um sicherzustellen, dass unsere Zeitschenker:innen gut auf ihre Aufgaben vorbereitet sind, bieten wir eine umfassende Qualifizierung an. Diese bereitet sie in insgesamt 100 Stunden nicht nur auf die emotionalen Herausforderungen vor, sondern vermittelt auch praktische Fähigkeiten, die im Umgang mit den Kindern und ihren Familien hilfreich sind. Zudem fördern wir den Austausch unter den Ehrenamtlichen, damit sie voneinander lernen und sich gegenseitig unterstützen können. Die Motivation derjenigen Menschen, betroffenen Familien ihre Zeit zu schenken, fördern wir durch verschiedene Ansätze.
Wir erzählen von den positiven Erfahrungen und den wertvollen Momenten, die unsere ehrenamtlichen Familienbegleiter:innen erleben. Zudem schaffen wir ein unterstützendes und wertschätzendes Umfeld, in dem sie sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen. Oft sind es auch persönliche Geschichten oder Begegnungen, die Menschen dazu bewegen, sich zu engagieren. Wir ermutigen Interessierte, sich mit uns in Verbindung zu setzen, um mehr über die Möglichkeiten des Ehrenamts zu erfahren und die Bedeutung ihrer Unterstützung hautnah zu erleben.
LEADERSNET: Welche einprägsame Begegnung oder Geschichte hat Sie in Ihrer Arbeit besonders berührt und wird Ihnen immer in Erinnerung bleiben?
Pia Heinreich: Ich durfte so viele berührende Erlebnisse und Geschichten mit den Familien teilen, dass es nicht die eine Geschichte gibt. Mich berührt es immer ganz besonders, wenn mein Team mit ganz viel Kreativität und Empathie es auch in schwierigen Situationen schafft, einen kleinen Glücksmoment zu schaffen. So erinnere ich mich an die Situation, dass ein Vater sehr traurig war, dass er – aufgrund des schlechten Gesundheitszustandes seines Kindes – nicht am Laternenumzug teilnehmen konnte. Was wurde gemacht? Die Bezugspflegekraft veranstaltete kurzerhand einen kleinen Laternenumzug in unserem Haus. Alle Lichter wurden ausgeschaltet und ein batteriebetriebenes Teelicht in die Wiege gelegt. Gemeinsam wurde eine kleine Lichterwanderung durchs dunkle Haus gemacht, die die Augen der Kinder und Angehörigen zum Strahlen brachten. Noch Jahre später, nach dem Tod des Kindes, berichtete mir der Vater, wie wunderschön und wichtig diese Erinnerung für ihn ist.
LEADERSNET: Die Arbeit mit schwer kranken Kindern ist emotional sehr belastend. Wie sorgen Sie persönlich für Ihre eigene seelische Gesundheit und verhindern ein Ausbrennen?
Pia Heinreich: Ich empfinde tiefste Dankbarkeit, diese sinnstiftende Arbeit tun zu dürfen. Ich habe so großen Respekt und Wertschätzung unseren Familien und meinem Team gegenüber und sie alle geben mir viel mehr zurück als ich geben kann. Und wann immer ich Zeit finde, schöpfe ich Kraft und Energie in der Natur oder gehe auf Tour mit meinen kleinen Enkelinnen.
LEADERSNET: Inwiefern spielen Kunst-, Musik- und Tiertherapie eine Rolle in Ihrem ganzheitlichen Betreuungsansatz, und welche Wirkungen beobachten Sie bei den Kindern?
Pia Heinreich: Diese Therapien können unterschiedlichste Wirkungen bei den Kindern zeigen. So können die Kinder ohne Worte ihre Gefühle in Bildern, Skulpturen oder Tönen, wie z.B. beim Trommeln ausdrücken. Das sind Emotionen wie Angst, Wut, Traurigkeit aber auch Hoffnung und Freude.
Bei manchen Kindern sind Ängste dann weniger bedrohlich. Sie wirken nach der Therapie entspannter und gelöster. Kunst- und Musiktherapie haben häufig auch einen spielerischen Charakter und sie machen den Kindern einfach auch ganz viel Freude und Spaß. Das wiederum steigert ihre Lebensqualität. Die Therapien fördern aber auch die Kommunikation. Über die Musik oder die kreative Arbeit kommt man in Kontakt und ins Gespräch. Die Therapien werden einzeln, in der Gruppe oder auch als Familienangebot wahrgenommen. Die tiergestützte Arbeit spiel für uns eine wichtige Rolle, sowohl im Hospiz- und Therapiealltag als auch in der Trauerbegleitung für Kinder und Jugendliche. Für viele Kinder ist der Kontakt mit Tieren etwas ganz Besonderes. Tiere sind wertvolle Partner, die dem Kind ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Sie nehmen das Kind an, wie es ist, ohne Vorurteile, ohne Wertung. Sie sind häufig "Ansprechpartner", dem die Kinder ihre Ängste und Sorgen anvertrauen. Oft möchten sie ihre Eltern nicht zusätzlich mit ihren Sorgen belasten, da die Eltern mit der eigenen Trauer sehr belastet sind. Durch Berührungen und den Kontakt mit den Tieren erfahren die Kinder Anregungen und/oder auch Entspannung. So entsteht eine innere Kraft und die Mädchen und Jungen beginnen zu erzählen, was sie beschäftigt. Alle Therapieformen bringen oft einfach viel Lebensfreude in das Leben der erkrankten Kinder und gesunden Geschwister sowie auch ihrer Eltern.
LEADERSNET: Die WHO schätzt, dass weltweit jedes Jahr etwa 21 Millionen Kinder eine palliative Versorgung benötigen. Was können Sie von anderen Ländern lernen? Wo sehen Sie noch Entwicklungsbedarf? Gibt es Projekte oder Initiativen, die Ihnen besonders am Herzen liegen?
Pia Heinreich: Die Zahl von 21 Millionen Kindern, die weltweit jährlich eine palliative Versorgung benötigen, verdeutlicht die immense Herausforderung und zugleich die Verantwortung, die wir als Gesellschaft tragen. Andere Länder können uns wertvolle Inspiration liefern. Großbritannien spielt dabei eine wichtige Vorreiterrolle, wenn es darum geht für die Kinderhospizbewegung eine breite Akzeptanz und Integration in der Gesellschaft zu schaffen.
In Deutschland gibt es bereits große Fortschritte, aber es gibt auch noch viel zu tun. Besonders in der flächendeckenden Versorgung stoßen wir auf Hürden – nicht jede Familie hat schnellen Zugang zu einem Kinderhospiz oder spezialisierten ambulanten Diensten. Hier sehe ich großen Entwicklungsbedarf, um sicherzustellen, dass wirklich jedes betroffene Kind und jede Familie die Hilfe erhält, die sie benötigt – unabhängig von ihrem Wohnort. Ein Projekt, das mir besonders am Herzen liegt, ist die Förderung der Geschwister- und Trauerarbeit. Die Geschwister von lebensverkürzend erkrankten Kindern tragen oft eine enorme Last und stehen dennoch selten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im Kinderhospiz Berliner Herz haben wir spezielle Angebote entwickelt, um diesen Kindern Raum zu geben, ihre eigenen Bedürfnisse zu äußern, ihre Gefühle zu verarbeiten und einfach mal Kind sein zu dürfen. Unser Ziel ist es, nicht nur auf die Dringlichkeit der Kinderhospizarbeit aufmerksam zu machen, sondern auch Menschen zu inspirieren, sich einzubringen – sei es durch Spenden, ehrenamtliches Engagement oder das Teilen unserer Botschaft. Jedes noch so kleine Stück Unterstützung hilft uns, ein großes Ganzes zu schaffen.
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