Interview mit dem Professor und Forscher
Dr. Dirk Scheele: "Einsamkeit ist mit einem größeren Todesrisiko verbunden als Rauchen, Übergewicht oder Alkohol"

| Bernhard Führer 
| 29.07.2024

Obwohl Einsamkeit keine Krankheit darstellt, sehen sich dauerhaft einsame Menschen vielen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt, die längst nicht "nur" mentaler Natur sind. Im LEADERSNET-Interview erklärt Prof. Dr. Scheele neurobiologische Hintergründe, ordnet die Bedeutung von sozialen Medien ein und verrät, wie Betroffenen geholfen werden kann.

Einsamkeit ist ein weit verbreitetes Problem, das Millionen Menschen weltweit betrifft und immer mehr an Bedeutung gewinnt. Es kann schwerwiegende Folgen für die psychische und physische Gesundheit haben und zu Depressionen, Angstzuständen und sogar zu einem schwächeren Immunsystem führen. In einer Zeit, in der soziale Medien uns scheinbar enger verbinden denn je, fühlen sich paradoxerweise immer mehr Menschen einsam. Durch gesellschaftliche Veränderungen der letzten Jahre und die zunehmende Digitalisierung scheint das Gefühl der Isolation bei vielen Menschen zuzunehmen.

Prof. Dr. Dirk Scheele, renommierter Einsamkeitsforscher und Professor an der Ruhr-Universität Bochum, widmet sich intensiv diesem komplexen Thema. Seine bahnbrechenden Studien beleuchten die neurobiologischen und psychologischen Aspekte der Einsamkeit und deren Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Mit seinen Studien und Forschungen hat er wertvolle Einblicke in die Ursachen, Auswirkungen und Bewältigungsstrategien von Einsamkeit gewonnen.

Wir wollen mehr über seine Erkenntnisse erfahren und darüber sprechen, wie wir in einer immer vernetzteren Welt dennoch zu echtem sozialen Zusammenhalt finden können. Im folgenden Interview gewährt uns Prof. Scheele Einblicke in seine Forschung und teilt seine Erkenntnisse zu einem der drängendsten sozialen Probleme unserer Zeit.

LEADERSNET: Prof. Scheele, Ihre Forschung zeigt, dass Einsamkeit trotz zunehmender Vernetzung ein wachsendes Problem darstellt. Wie erklären Sie dieses Paradoxon? Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach dazu geführt, dass Einsamkeit zu einem so weit verbreiteten Problem geworden ist und warum gewinnt es immer mehr an Bedeutung?
 
Scheele: Es ist wichtig zu betonen, dass die langfristige Entwicklung der Einsamkeit in der Gesellschaft nicht eindeutig belegt ist. Um fundierte Aussagen treffen zu können, benötigen wir umfassendere Langzeitstudien, die Einsamkeit über Jahrzehnte hinweg messen. Während einige Untersuchungen bereits Zeiträume von Monaten bis zu wenigen Jahren abdecken, fehlen bislang aussagekräftige Daten über mehrere Dekaden. Folglich bleibt die empirische Grundlage für die These einer generellen Zunahme von Einsamkeit über längere Zeiträume unzureichend.
 
Unbestritten ist jedoch, dass die COVID-19-Pandemie das Thema Einsamkeit verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung gerückt hat. Interessanterweise zeigen neuere Studien, dass die Pandemie nicht zu einem flächendeckenden Anstieg der Einsamkeit in der Gesamtbevölkerung geführt hat. Stattdessen wurden vulnerable Gruppen, insbesondere Menschen mit bereits bestehenden psychischen Erkrankungen, überproportional stark getroffen. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Notwendigkeit, bei der Betrachtung von Einsamkeit differenziert vorzugehen und besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu berücksichtigen. 
 
LEADERSNET: Welche neurobiologischen Mechanismen liegen der Einsamkeit zugrunde und welche Auswirkungen haben diese auf das menschliche Gehirn? Welche neurobiologischen Veränderungen können Sie bei Menschen feststellen, die unter chronischer Einsamkeit leiden?
 
Scheele: Die neuralen Korrelate der Einsamkeit sind Gegenstand laufender Forschung und noch nicht vollständig entschlüsselt. Es ist evident, dass ein so komplexes Phänomen wie Einsamkeit nicht auf eine einzelne Gehirnregion reduziert werden kann, sondern multiple neuronale Netzwerke involviert. Dennoch zeigen sich signifikante Veränderungen in spezifischen Hirnarealen.
 
Eine bemerkenswerte Erkenntnis lieferte die renommierte Framingham Heart Study aus den USA, eine der umfangreichsten epidemiologischen Langzeitstudien. Sie identifizierte bei chronischer Einsamkeit eine strukturelle Veränderung des Hippocampus, genauer eine Volumenreduktion dieser für Gedächtnisprozesse essentiellen Hirnregion. Diese Beobachtung korreliert mit festgestellten Gedächtnisdefiziten bei anhaltender Einsamkeit und suggeriert einen kausalen Zusammenhang zwischen der hippocampalen Atrophie und kognitiven Beeinträchtigungen.​
 
In unserer Forschungsgruppe haben wir in einer Studie die Gehirnaktivität von einsamen Menschen mit funktioneller Magnetresonanztomographie untersucht, während sie Vertrauensentscheidungen treffen mussten. Kurz gesagt sollten sie entscheiden, wie viel Geld sie in fremde Personen investieren wollen, in der Hoffnung, dass sich diese später revanchieren. Wir haben Hinweise gefunden, dass einsame Menschen eine reduzierte Aktivität und Kommunikation der Inselrinde bei diesen Vertrauensentscheidung zeigen.
 
Die Inselrinde ist an verschiedenen Prozessen beteiligt, unter anderem ist sie für die Verarbeitung körpereigener Signale wichtig. Wenn man also auf den Herzschlag oder den Magen achtet, zeigt sich eine verstärkte Inselaktivierung. Eine reduzierte Aktivierung der Inselrinde bei solchen Vertrauensentscheidungen könnte daher damit erklärt werden, dass bei einsamen Menschen das Bauchgefühl verändert ist, ob man einem fremden Menschen vertrauen kann. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Komplexität der neurobiologischen Grundlagen von Einsamkeit und verdeutlichen die Notwendigkeit weiterer Forschung zur Aufklärung der zugrundeliegenden Mechanismen und möglicher Interventionsstrategien.
 
LEADERSNET: Eine über 85 Jahre durchgeführte Harvard-Langzeitstudie fand heraus, was uns im Leben am meisten glücklich macht und hilft, länger zu leben: Enge Beziehungen zu Ehepartnern, Familie, Freunden oder sozialen Kreisen. Einsamkeit ist das genaue Gegenteil: Keine persönliche Verbindungen erzeugen keine geistige und emotionale Stimulation, die Stimmung der Menschen wird dadurch nicht aufgehellt. Ihre Studien befassen sich mit den Auswirkungen von Einsamkeit auf die Gesundheit. Können Sie die gravierendsten Folgen für uns zusammenfassen?
 
Scheele: Es ist mittlerweile in der Tat sehr gut etabliert, dass Einsamkeit ein ganz gravierendes Gesundheitsrisiko darstellt. Wir haben metaanalytische Evidenz, dass Einsamkeit mit einem größeren Mortalitätsrisiko, also Todesrisiko, verbunden ist als Risikofaktoren wie Rauchen, Übergewicht oder Alkohol. Kurz gesagt, lange anhaltende Einsamkeit kann tödlich sein. Erhebungen zeigen, dass Einsamkeit und soziale Isolation für die Gesundheit so schädlich sind, wie circa 15 Zigaretten pro Tag. Andere Erhebungen zeigen, dass Einsamkeit, das Risiko für Herzerkrankungen oder auch Schlaganfälle um circa 30 Prozent erhöht. Gut belegt sind auch Zusammenhänge mit neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer. 
 
Schließlich wissen wir auch, dass Einsamkeit in einem sehr engen Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen steht, also wie beispielsweise Depression oder soziale Angst. Und hier konnten Studien zeigen, dass man mit Einsamkeit vorhersagen kann, wie sich Depressionen in den nachfolgenden Jahren entwickeln. Menschen mit einer sehr hohen Einsamkeit hatten ein deutlich erhöhtes Risiko, Jahre später noch stärker oder wieder an einer Depression zu erkranken. Insgesamt gibt es wirklich eine sehr gute Datenlage, dass Einsamkeit eine gravierende Gefahr für Menschen darstellt und vor allem eben auch ein modifizierbares Gesundheitsrisiko ist.
 
Die von Ihnen erwähnte Harvard-Studie hat die positive Seite der Medaille untersucht. Tatsächlich wissen wir, dass soziale Bindungen und soziale Konnektivität sehr viele positive Effekte haben können. Sie können Stress lindern, angstlösend wirken und sogar schmerzdämpfende Wirkung haben. Insofern ist es naheliegend zu vermuten, dass die Effekte von Einsamkeit quasi einfach als Abwesenheit dieser positiven Effekte von sozialer Bindung erklärt werden können. Das ist allerdings noch nicht abschließend geklärt.
 
LEADERSNET: Inwiefern hat die zunehmende Nutzung sozialer Medien zur Verbreitung von Einsamkeit beigetragen? Gibt es hierbei spezifische Altersgruppen, die besonders betroffen sind?
 
Scheele: Der Erklärungsansatz "mehr soziale Mediennutzung gleich mehr Einsamkeit“ ist zu simplifizierend. Es gibt viele wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass die Nutzung sozialer Medien wie Facebook oder Instagram nicht per se zu mehr Einsamkeit führen muss. Der Effekt hängt stark von der Art der Nutzung und den Erfahrungen ab, die man damit macht. Soziale Medien können auch eine Quelle von Inspiration oder sozialer Unterstützung sein.
 
Negative Effekte treten eher auf, wenn Nutzer Ausgrenzung oder Mobbing erfahren. Richtig ist, dass soziale Medien stärker von jüngeren Menschen genutzt werden. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass jüngere Menschen besonders von Einsamkeit durch soziale Medien betroffen sind. Die Effekte hängen von der Medienkompetenz und den individuellen Erfahrungen ab. Insgesamt ist das Thema komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint.​
 
LEADERSNET: In Ihren Forschungen untersuchen Sie auch Bewältigungsstrategien. Welche Methoden haben sich als besonders effektiv erwiesen, um Einsamkeit zu überwinden? Welche Strategien und Maßnahmen können Einzelpersonen ergreifen, um das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden oder zu mildern?
 
Scheele: Metaanalytische Evidenzen zeigen, dass Interventionen, die negative kognitive Erwartungen verändern, besonders wirksam gegen Einsamkeit sind. Einsame Menschen haben oft negative Erwartungen; wie die Erwartung, dass anderen Menschen nicht vertraut werden kann. Interventionen, die diese Erwartungen verändern, können hilfreich sein. Ebenso sind Interventionen, die Möglichkeiten für neue soziale Kontakte schaffen, wirksam gegen objektive soziale Isolation.
 
Es ist wichtig zu betonen, dass Einsamkeit keine Krankheit ist. Jeder Mensch verspürt von Zeit zu Zeit Einsamkeit. Wenn dieses Gefühl jedoch länger anhält, kann es gefährlich werden. Strategien sollten darauf abzielen, negative Erwartungen zu ändern und neue soziale Kontakte zu knüpfen.
 
LEADERSNET: Wie können Gemeinschaften und Gesellschaften als Ganzes effektiv gegen Einsamkeit vorgehen und den sozialen Zusammenhalt stärken? Welche Ansätze und Forschungsergebnisse Ihrer Arbeit halten Sie für besonders vielversprechend, um das Problem der Einsamkeit anzugehen?
 
Scheele: Ich glaube, es gibt hier bisher kein Allheilmittel. Es ist klar, dass es auf gesellschaftlicher Ebene wichtig ist, soziale Ausgrenzung zu vermeiden. Soziale Ausgrenzung kann ganz verschiedene Ursachen haben, zum Beispiel kann sie durch Sprachbarrieren oder demographische Faktoren wie das Alter entstehen. Wir wissen alle, dass es im höheren Lebensalter sehr viel schwieriger werden kann, soziale Kontakte aufrechtzuerhalten, besonders wenn gesundheitliche Probleme hinzukommen, die es schwerer machen, am sozialen Leben zu partizipieren. Da ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft versuchen, einer solchen sozialen Exklusion keinen Vorschub zu leisten und eben ältere Menschen nicht an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Natürlich halte ich auch politische Maßnahmen, die gegen Einsamkeit initiiert werden, für sehr sinnvoll. Aber nach meinem Dafürhalten gibt es kein Allheilmittel, das das Problem von heute auf morgen löst.
 
LEADERSNET: Welche Rolle spielen Politik und Gesundheitswesen bei der Bekämpfung von Einsamkeit und was müsste Ihrer Meinung nach auf diesen Ebenen noch verbessert werden? England initiierte ein Ministerium für Einsamkeit und auch in Japan ist dieses Thema präsenter als in Europa.
 
Scheele: In vielen Ländern wird das Thema Einsamkeit von der Politik als bedeutsames Problem erkannt. Das Thema ist auch in Deutschland mittlerweile in der politischen Agenda angekommen. Zum Beispiel gibt es vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine Einsamkeitsstrategie und auch Sensibilisierungskampagnen. Das besteht aus Werbung, die geschaltet wird, YouTube-Videos, aber auch regionalen Veranstaltungen, bei denen die breite Bevölkerung gegenüber dem Thema sensibilisiert werden soll. Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Gerade vor dem Hintergrund, dass man sieht, dass Einsamkeit eine so große gesundheitliche Relevanz hat und ein modifizierbarer Risikofaktor ist. Insofern halte ich das für sehr wichtig. 
 
Aber ich hatte es ja auch schon kurz angedeutet: Wir wissen sehr gut, dass Einsamkeit mit massiven gesundheitlichen Konsequenzen verbunden ist. Wir brauchen aber noch ein besseres Verständnis darüber, welche spezifischen neuro-hormonellen oder immunologischen Mechanismen Einsamkeit zu einem solchen Krankheitsrisiko machen. Hier wird also weitere medizinpsychologische Forschung erforderlich sein, um diese Mechanismen im Detail zu verstehen und basierend auf einem solchen besseren Verständnis auch gezielte Interventionen zu entwickeln.

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